Dem Schaf zu Ehren

Dem Schaf zu Ehren

Dem Schaf zu Ehren

»Wer weiß, vielleicht steht dem Schaf in postindustriellen Zeiten eine grandiose Zukunft bevor als Daseinsstütze für die entwurzelten Bewohner urbaner Zonen.«

 

Schafen heute nur saisonal als Osterlamm Beachtung zu schenken oder Schafherden in der Landschaft als pittoreske Relikte des Pastoralen wahrzunehmen verkennt, welche Wirkungsmacht diesen Tieren seit ihrer Domestizierung zugekommen ist. Mit dem Untertitel Ein Porträt zeichnet Eckhard Fuhrs in der Reihe Naturkunden bei Matthes & Seitz erschienener Band Schafe ein gleichermaßen natur- wie kulturgeschichtliches Gesamtbild. Fuhr widmet sich dem Wild- wie dem Hausschaf und der Geschichte ihrer Trennung. Folgt man der großen historischen Periodisierung von der neolithischen Revolution als Übergang von Jägern und Sammlern zu Sesshaftigkeit und Ackerbau und der industriellen Revolution als Beginn unseres gegenwärtigen fossilen Energieregimes, so spielten Schafe bei beiden großen Transformationen jeweils eine Rolle.

Der Nahe Osten zeichnete sich – im Gegensatz zu den anderen Zentren der Neolithisierung – durch die Gleichzeitigkeit der Kultivierung von Pflanzen und der Domestikation von Tieren aus. Bei den Tieren machten hierbei Ziege und Schaf den Anfang, genügsame Wiederkäuer, die für die Menschen keine Nahrungmittelkonkurrenten bei ihren Ernteerträgen darstellten, sondern durch ihre Verwertung von trockenem Gestrüpp für die Menschen nicht unmittelbar nutzbare Nahrung konvertierten. Damit konnten gleichzeitig auch Flächen erschlossen werden, deren Böden und Bewuchs das ohne dieses symbiotische Verhältnis zwischen Mensch und Tier nicht hergegeben hätten. »Was sind alle unsere modernen Erfindungen gegen diese Haupterfindung der Domestikation von Tieren?«, wie Gabriel Tarde einmal schrieb.[1]

Schafe, genauer gesagt »Schafe, Schafe, Schafe!«,[2] spielten auch eine Rolle bei der zweiten großen Transformation, der industriellen Revolution. Ein Tier, das nach 10.000 Jahren Landwirtschaft und dem Hinzukommen von Rindern, Pferden, Eseln, Geflügel usw. mittlerweile nur noch eines unter vielen in bäuerlichen Mischbetrieben war, verdrängt als Herdentier die anderen von der Szene, wie seine Besitzer, aristokratische Grundherren, die Bauern von ihren Äckern und aus ihren angestammten Lebensweisen vertrieben, weil sie auf Weideflächen keine Nahrungsmittel, sondern Wolle für die aufkommende Textilindustrie gewinnen wollten. Und aus der sesshaften Bauernschaft das mobile Industrieproletariat machten. Durch die veränderte Landnutzung entstanden Landschaften, deren romantische Repräsentationen heute gerne als idyllische Natur wahrgenommen werden, wenn man nicht wie Fuhr oder auch der Geobotaniker Hansjörg Küster darauf hinweist, was jeweils auf Gemälden von Caspar David Friedrich wirklich zu sehen ist. Letzteres eigentlich imperativisch im Sinne von »wahrgenommen werden muss«.

Der im 19. Jahrhundert einsetzende Naturschutz begann mit dem Schutz von Kulturlandschaften wie der Lüneburger Heide aus ästhetischer Perspektive, nachdem durch die Erfindung des Kunstdüngers bislang zu unergiebige Böden für den Ackerbau in Beschlag genommen werden konnten. Schafe sind seitdem auf dem Rückzug – ihre Wolle hat Konkurrenz durch Kunststoffe bekommen –, und in den sich entleerenden ländlichen Räumen treffen sie heute zudem wieder auf ein Tier, dem Fuhr mit Rückkehr der Wölfe ein eigenes Buch gewidmet hat.

Wohin die gegenwärtige Transformation uns führt, ist noch nicht ausgemacht, obwohl es mit der Nachhaltigkeit heute einen formulierten Plan dafür gibt. Und vielleicht deshalb schreibt Fuhr schon am Anfang seines Buchs: »Wer weiß, vielleicht steht dem Schaf in postindustriellen Zeiten eine grandiose Zukunft bevor als Daseinsstütze für die entwurzelten Bewohner urbaner Zonen.«[3]

 

Foto: Lesung mit Eckhard Fuhr aus seinem neuesten Buch Schafe, erschienen in der Reihe Naturkunden bei Matthes & Seitz, im Rahmen von Forest Fiction 2 to honor an animal, Samstag, 29. April 2017, im Biosphärenreservat Schorfheide Chorin.

Matthes & Seitz.

 


[1] Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt am Main 2009, S. 291.
[2] Eckard Fuhr, Schafe. Ein Porträt, Berlin 2017, S. 73.
[3] Ebd., S. 15.