Karneval der Naturen

Karneval der Naturen

Karneval der Naturen

»Sangra o coração do meu Brasil
O belo monstro rouba as terras dos seus filhos
Devora as matas e seca os rios
Tanta riqueza que a cobiça destruiu«

»Das Herz meines Brasilien blutet
Das schöne Ungeheuer raubt das Land seiner Kinder
verschlingt die Wälder und trocknet die Flüsse aus
So viel Reichtum, den die Gier zerstört«

Das Ungeheuer, von dem in diesem Liedtext gesungen wird, war vor nicht allzu langer Zeit selbst noch ein Teil brasilianischer Landschaft: ein schöner Berg. Das Wortspiel, das aus Belo Monte ein Monster macht, gibt mit seinem kleinen Eingriff in ein Wort einen großen Eingriff in die Natur wieder. Den Bau des umstrittenen Wasserkraftwerks Belo Monte am Rio Xingu, einem Nebenfluss des Amazonas. Das Adjektiv »schön« scheint dabei nur noch ein Relikt des alten Namens und der alten Topographie zu sein, falls es nicht für eine Faszination am technologischen Gigantismus des Bauwerks stehen soll. Angesichts des Verschwindens von Regenwald und Ackerland in der Größe etwa des Bodensees und der Umsiedlung von 20 000 bis 40 000 Menschen.

Die Zeilen stammen aus dem Lied, mit dem eine der größten Sambaschulen Rio de Janeiros, die G.R.E.S. Imperatriz Leopoldinense, am Karneval 2017 teilnimmt. Ihr Name leitet sich von ihrem Sitz in der historischen Region Zona da Leopoldina im Norden der Stadt ab. Er geht auf Maria Leopoldine von Österreich zurück, die erste Kaiserin von Brasilien, eine naturkundlich interessierte junge Habsburgerin, der Brasilien die Unabhängigkeit verdankt.

Unter dem Titel »Xingu – der Schrei, der aus dem Wald kommt« (»Xingu – o clamor que vem da Floresta«) widmet sich Imperatriz Leopoldinense den indigenen Xingu am gleichnamigen Fluss. Und den Gefährdungen, denen sie ausgesetzt sind. Es treten Tänzer und Tänzerinnen in Kostümen auf, die die »Wächter des Waldes«, traditionelle Nutzpflanzen, Fische, Gürteltiere, Makaken und andere Tiere darstellen, die zum traditionellen Leben der Xingu gehören. Aber auch die »Ankunft der Invasoren«, »Krankheiten und Befall«, »Bauern und ihre Pestizide«, die »Augen der Gier« sowie das »Weinen des Grüns« werden fantasievoll verkörpert. Das hat bei Bekanntgabe des Themas zu einem Aufschrei geführt. Organisationen und Verbände der brasilianischen Agrarindustrie fühlten sich pauschal angegriffen. Es folgte eine mediale Diskussion, die sich in puncto Informationsgehalt und Emotionalität über die ganze Spannbreite des in der Netzkultur Möglichen erstreckte. Dort, wo noch mit Fakten argumentiert wurde, haben Vertreter der Agrarindustrie vorgerechnet, welchen Beitrag sie mit welcher Flächengröße zum Bruttosozialprodukt Brasiliens leisten. Um diesen Maßstab dann auch an die Flächen und Ökonomien der indigenen Gruppen anzulegen – zu deren Ungunsten.

Die Sambaschule Imperatriz Leopoldinense hat schließlich auf ihrer Webseite eine Klarstellung veröffentlicht. Sie verweist auf die Bedeutung des Karnevals als kulturelles Erbe und seine Rolle für Tourismus und Wirtschaft. Sich selbst versteht sie als demokratischen Raum mit einem Bekenntnis zu Vielfalt, sieht über die Funktion von Unterhaltung hinaus eine Verpflichtung für soziale und nachhaltige Entwicklung und will Flussanwohnern, indigenen Völkern, Umweltschützern und wichtigen gesellschaftlichen Gruppen, die gegen den Bau des Wasserkraftwerks waren, Beistand leisten. Mit »Xingu« möchte Imperatriz Leopoldinense den Beitrag der indigenen Völker des Xingu zum Thema machen und eine Botschaft zur Erhaltung und zum Respekt der Natur und der biologischen Vielfalt senden, denn im Namen des Fortschritts und der Entwicklung wird die Umwelt oft irreversibel geschädigt, z. B. durch unkontrollierte Abholzung.

Den Angriffen der Agrarindustrie wird entgegengehalten, dass es sich bei »Xingu« nicht um eine generelle Kritik an der Agrarindustrie und ihren Beschäftigten handelt. Eine Synopsis ihrer Darbietungen findet sich auf ihrer Webseite. Diesem Text vorangestellt ist ein längeres Zitat des brasilianischen Anthropologen Orlando Villas Bôas, auf dessen Engagement die Einrichtung des Xingu-Nationalparks und des gesetzlichen Schutzes der Xingu in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts zurückgeht und der beim Vergleich moderner mit indigenen Brasilianern zum Resumé gekommen war: »Welch enormer Unterschied zwischen diesen beiden Menschheiten!« Orlando und seinen Brüdern Cláudio und Leonardo Villas Bôas ist ein Wagen des Festzuges gewidmet.

Im Gefolge der europäischen Eroberer reisend, hat die Anthropologie eigene Entdeckungen gemacht: Wo das westliche Projekt weiterhin verfügbaren Raum mit Ressourcen für die Zivilisation ausmachen möchte, gilt es, das koloniale Programm zu beenden, jene »Eroberung der Welt«, die darauf hinauslief, »daß man denen, die eine andere Hautfarbe oder platte Nasen haben, ihr Land wegnimmt« [1]. Die Beziehungsmodi sollen von Raub auf Respekt umgestellt werden.

Der französische Anthropologe Philippe Descola hat in diesem Sinne vor etwa zehn Jahren folgende Gedankenkonstruktion für die Frage »Wem gehört die Natur?« vorgeschlagen: »[…] dort, wo Menschen es als normal und wünschenswert erachten, intersubjektive Beziehungen mit Nichtmenschen zu unterhalten, wäre es denkbar, den Schutz einer bestimmten Umwelt nicht durch ihre intrinsischen, ökosystemischen Charakteristika zu legitimieren, sondern durch die Tatsache, dass die Tiere von den lokalen Populationen dort als Personen behandelt werden – im Allgemeinen übrigens gejagt werden, allerdings unter Beachtung ritueller Vorsichtsmaßnahmen. Man hätte so also eine Kategorie für Schutzgebiete, die im wesentlichen für ›animistische Regime‹ funktionieren würde – in Amazonien, in Kanada, in Sibirien oder im malaiischen Wald […]«. [2]

Beim Defilee der Imperatriz Leopoldinense am 25. Februar 2017 im Sambódromo in Rio de Janeiro tanzte die Gruppe, die die »Bauern und ihre Pestizide« (»Fazendeiros e seus agrotóxicos«) verkörpert, schließlich weniger provozierend als »Die Gefahr der Pestizide« (»O Perigro dos agritóxicos«) durch die Paradestraße: »Salve o verde … Rettet das Grün des Xingu …«, zwei Schritte vorwärts, einen zurück.

 

→ G.R.E.S. Imperatriz Leopoldinense

[1] Joseph Conrad, Das Herz der Finsternis, Zürich 2007, S. 12.
[2] Philippe Descola, »A qui appartient la nature?«, 21.01.2008
http://www.laviedesidees.fr/A-qui-appartient-la-nature.html

Fotos: Imperatriz Leopoldinense