Fünfzehn Tage in der Wildnis

Fünfzehn Tage in der Wildnis

Fünfzehn Tage in der Wildnis

Als Alexis de Tocqueville 1831 Nordamerika bereiste, woraus die beiden berühmten Bände Über die Demokratie in Amerika hervorgingen, machte er auch einen Abstecher an die »Grenzen der Zivilisation«[1]. Ausgangspunkt seiner »fünfzehn Tage in der Wildnis« war Detroit, eine französische Gründung und Kleinstadt von »2.000 bis 3.000 Seelen«[2]. Mit Pferden und Reisebegleiter Gustave de Beaumont ging es von dort durch Michigan, damals noch kein Bundesstaat der USA, nach Norden zum Flint River, dann weiter mit indianischen Führern durch die Wälder bis zum Handelsposten Saginaw.

Dieselben 100 Meilen heute – Detroit–Flint–Saginaw – wären eine Reise durch von Deindustrialisierung und Abwanderung gezeichnete Städte und Landschaften. Die ehemalige Unwegsamkeit ist der Infrastruktur eines nahezu flächendeckenden Straßenrasters gewichen. Einige Golf- und Campingplätze, Recreation Areas, Resorts und Wildlife Refuges inbegriffen.

Diese Entwicklung hätte Tocqueville in ihrem Ausmaß vermutlich beeindruckt, in der Sache aber nicht wirklich erstaunt. Denn was er auf seinem Weg beobachtete – die Rodungen der Wälder, die Ausbreitung der Europäer, der »Lärm der Zivilisation und der Gewerbe«[3], hatte in ihm eine »Vorstellung von Zerstörung«[4] ausgelöst, eine ambivalente, zwischen Melancholie und Bewunderung schwankende Gefühlslage. »Man fühlt sich stolz, Mensch zu sein, und spürt zugleich irgendein bitteres Bedauern, dass Gott uns Macht über die Natur verliehen hat.«[5] Tocqueville lässt die Erhabenheit und Unberührtheit der Landschaft zwar auf seine Empfindungen wirken, gibt sich ihr aber nicht ausschließlich hin. Er sucht das Grenzgebiet auf, weil sich hier der Prozess der Zivilisation als schöpferische Zerstörung vor Ort beobachten lässt. Und seine Ökonomie als ein von der Vereinnahmung neuer Flächen und Ressourcen genährter Stoffwechsel offen zutage liegt.

Das von Tocqueville durchreiste Gebiet war bis ins 18. Jahrhundert hinein noch Teil der französischen Kolonie Neufrankreich, die sich von Kanada bis zum Golf von Mexiko erstreckte, bevor sie im Krieg gegen England verloren wurde. Und so glaubte Tocqueville hier unterschiedliche Existenzweisen identifizieren zu können, die in ihrem Verhältnis zur Natur essentiell von Nation und Rasse bestimmt sind. Einerseits Franzosen, die sich der Wildnis und dem indianischen Leben anpassten, ein Jägerdasein führten und aus deren Verbindung mit indianischen Frauen métis (Mischlinge) bzw. sogenannte bois-brûlés (gebranntes Holz) hervorgingen, andererseits Engländer, die unter allen Umständen immer Engländer blieben. Letztere befolgten unbeirrt ihr Programm: Verdrängung der Indianer, Aneignung des Landes und Ausbeutung des Bodens. Der Konkurrenz mit dieser energisch vorangetriebenen Kolonisierungsstrategie sah er die französische Lebensart seiner Landsleute nicht gewachsen. Indianer wiederum erschienen ihm unfähig, Land in Besitz zu nehmen und zu bewirtschaften. Und dort, wo sie sich von der Jagd ab- und der Landwirtschaft zugewandt hätten, seien ihnen die Einwanderer durch ihr althergebrachtes Wissen um die »Geheimnisse des Ackerbaus«[6] weit überlegen »und richten sie durch einen wirtschaftlichen Wettkampf zugrunde«[7]. Es war nur eine Frage der Zeit: Erreiche die europäische Besiedlung erst einmal die Pazifikküste, so projizierte Tocqueville in die Zukunft, sei der Untergang der Indianer besiegelt.[8] Und das der Wildnis auch. In beiden Fällen gestattete er sich weder Mitleid noch Trauer. Hier, wie bei der zeitgleichen Eroberung Algeriens durch Frankreich, war er entschieden auf Seiten des kolonialen Projekts.

Die Wildnis ist dabei ein Konstrukt, das man an den Rändern der Zivilisation nur sehen kann, wenn man die Agrikultur zur maßgeblichen Beziehung des Menschen zur Natur erklärt. Und andere Formen der Landnutzung ignoriert, ihnen das Recht abspricht und sich über sie und ihre Vertreter hinwegsetzt.


[1] Alexis de Tocqueville, Fünfzehn Tage in der Wildnis, Berlin 2013, S. 17.
[2] Ebd.
[3] Ebd., S. 76.
[4] Ebd.
[5] Ebd., S. 77.
[6] Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Erster Teil von 1835, Zürich 1987, S. 498.
[7] Ebd., S. 500.
[8] Vgl. ebd., S. 492.

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