Kreuzberger Salon 59 | Körper und Erde

Abbildung: thinkOyaKörper und Erde
Buchvorstellung mit Matthias Fersterer, thinkOya

»The barn was closed, empty, the doors tied shut by someone who did not intend to come back very soon. Peering in through a crack, I found that I was looking into a milking room with homemade wooden stanchions, unused for years. I knew why: it had become impossible to be a small dairy-man.« Wendell Berry, The Unsettling of America, 1977

Im Frühjahr 2016 erschienen Kühe auf einigen Titel- und Startseiten deutscher Medien. Die Nachricht, dass der Milchpreis einen neuen Tiefstand erreicht hatte, ging durch das Land, und ein weiteres Höfesterben kündigte sich an. Auf lange Sicht, über die aktuelle Tagespolitik hinaus, zeichnet sich ein makrohistorisches Ereignis ab: das Ende der Agrikultur, der bäuerlichen Landwirtschaft, wie wir sie kannten.

Ihr Anfang, der Übergang von steinzeitlichen Jägern und Sammlern zu Sesshaftigkeit und Ackerbau, ist einmal »neolithische Revolution« genannt worden. Der Begriff stieß aber auch auf Kritik. Denn es handelte sich um einen längeren geschichtlichen Übergangsprozess, nicht um etwas Plötzliches. Und auch das Ende dieser Epoche, mitunter pathetisch als »Tod des Bauern« bezeichnet, kommt nicht schlagartig, sondern eher wie eine sich seit dem 19. Jahrhundert hinziehende Agonie, da auch die zweite große Transformation der Geschichte, die sogenannte »industrielle Revolution«, Zeit braucht. Und ausgehend von anderen Wirtschaftszweigen die Landwirtschaft mit Verzögerung erreicht hat und hier erst nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Beschleunigung erfährt.

Wendell Berry, Jahrgang 1934, ist in diese Zeit hineingeboren und hat seine Erfahrung in ebenjener Region gemacht, in der der Übergang von der old world zur new world agriculture seinen Ausgang genommen hat, die Ablösung der von europäischen Siedlern mitgebrachten bäuerlichen Kultur durch die industrielle Landwirtschaft. [1] Mittlerweile sind deren Auswirkungen in den großflächigen Ebenen Ostdeutschlands und ihren postkollektivierten Großbetrieben unübersehbar.

Berry ist gerne Bauer und möchte gerne Bauer bleiben. Hinter dem Buchdeckel mit der Kuh, die uns von Körper und Erde anblickt, liegen Gedanken, die Berry schon vor vierzig Jahren veröffentlicht hat. Sie haben in ihrer Prägnanz und Klarsichtigkeit bis heute nicht an Bedeutung verloren, weil wir noch immer im Prozess dieses Übergangs leben.

Körper und Erde (im Original The Body and the Earth) ist ein Essay aus The Unsettling of America. Culture & Agriculture von 1977. Es wurde im Verlag des Sierra Clubs, der ältesten und größten Naturschutzorganisation der USA, publiziert, in der Rubrik Current Affairs / Literature. Scheinbar ist Wendell Berry damit seinerzeit zwischen die Kategorien des Literaturbetriebs hierzulande gefallen, in dem Literatur sich oft mit Literatur beschäftigte, also selbstbezüglich war, oder lange auch von Vergangenheitsbewältigung eingenommen, sich weniger mit aktuellen Angelegenheiten beschäftigte. Andererseits ist der urban-bürgerlich ausgerichtete Kulturbegriff der alten Bundesrepublik vor dem Hintergrund des Flurschadens, den die totalitäre Überstrapazierung des Bäuerlichen hinterlassen hatte, mehr als verständlich. Wie dem auch sei: Boston, New York, San Francisco, Berkeley, Washington D.C. usw. – Berrys Bücher werden seit Jahrzehnten zwar in den Vereinigten Staaten verlegt. In Deutschland erschienen dagegen nur der Roman Erinnern (Ostfildern 1995), Leben mit Bodenhaftung. Essays zur landwirtschaftlichen Kultur und Unkultur (2000), bezeichnenderweise im Verlag eines Ökobauernhofs auf Gut Breite in Stücken, und nun, an einem weiteren provinziellen Ort, Klein Jasedow, Körper und Erde.

Für deutsche Leser ist der Auszug Körper und Erde gut gewählt, weil Berry sich hier am weitesten von US-amerikanischen Zusammenhängen freigeschrieben hat. Nichtsdestoweniger mag der Text auch als Einstieg zu einer weiteren Lektüre oder Übersetzung Berrys dienen. Und wenn man sich von Namen nicht unbedingt geläufiger Autoren und Politikern, die er zitiert, nicht abschrecken lässt, sieht man: Maschinisierung, Effektivität, Produktivismus, Spezialisierung, Kapitalisierung, Betriebsvergrößerungen, Exportausrichtung und Wachstum … Schon damals sind es die gleichen Konzepte, die auch heute noch von den Vertretern der industriellen Landwirtschaft gerne als Argument für die Alternativlosigkeit ihrer Produktionsweise vorgebracht werden. Berrys Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Diskussion im Amerika der siebziger Jahre zielt aufs Ganze. Er legt die modernen Paradigmen offen, zeigt, dass Politik dahinter steht und keine natürlichen Entwicklungen. Und leistet gleichzeitig zur strukturellen Analyse des industriellen Zeitalters auch Sprachkritik und Sprachanalyse des Jargons in Agrarpolitik und Agrarwissenschaft: Die alten Metaphern des Organischen werden zunehmend durch Metaphern des Maschinellen ersetzt.

Körper und Erde richtet sich gegen die Fragmentierungsprozesse, mit denen die Moderne tradierte Einheiten auflöst, kritisiert deren Regime des Wettbewerbs, das andere Beziehungsmodi wie Konvivialität und Zusammenarbeit mit den Ellbogen wegdrückt und eine alte, gewachsene Kultur der Dauer und des Kreislaufs ökologisch auf eine schiefe Bahn bringt: Die Linearität des Fortschritts ist nur durch den Überfluss fossiler Energien möglich. Die Beziehungen von Körpern und Erde ist damit in ein kritisches Verhältnis geraten inklusive der tradierten Abgestimmtheit aller Verbindungen zwischen Mann und Frau (Ehe, Sexualität), zu Tieren, Pflanzen, dem Boden und auch dem Himmel (Religion).

Und so ist auch das & des Untertitels von The Unsettling of America. Culture & Agriculture, obwohl ein sogenanntes Kaufmanns-Und, keine Liaison von zwei Kompagnons, die sich geschäftlich zusammen getan haben. Beide sind vielmehr unauflöslich miteinander verknüpft und co-evolutionär auseinander hervorgegangen. Von daher ist auch die Doppeldeutigkeit des Titels zu verstehen: Eine Abkehr von der Agrikultur, eine Entsiedlung des Amerikas der kleinen selbständigen Farmer ist für Berry gleichzeitig auch eine Beunruhigung des Landes. Mit dem deutschen Wort Landwirtschaft ist dieser Bezug nicht ohne Weiteres gegeben, hier steht einer Betonung des Wirtschaftlichen das Tor geradzu offen. Anders als in latinen Sprachen, etwa dem Französischen, wo Michel Serres seit den achtziger Jahren eben auf diese konstitutive Verbindung culture/agriculture hinweist und im Hinblick auf die Erde einen neuen Naturvertrag vorschlägt.

Angesichts der verspäteten Rezeption Wendell Berrys in Deutschland kommt einem folgende Bemerkung Peter Sloterdijks in den Sinn: »Wir haben uns eine überlange Belle Epoque gestattet, eine überlange Frivolitätsperiode erlaubt, wir haben Problemdiagnosen, die in Folge der Club of Rome-Debatte in den späten 60er-Jahren und in den 70er-Jahren bis zur Klassizität ausformuliert waren, einfach in den Schrank gestellt. Weil gesagt wurde: Entwarnung auf der ganzen Linie, Öl gibt es genug, Geld gibt es genug, Energie gibt es genug und Leute, die sich amüsieren wollen, wachsen auch nach.« Bevor er im Sinne der Nachhaltigkeit fordert: »Und wir müssen diesen Ernst der regenerativen Logiken in einer Weise verkörpern, wie es die Menschen in den letzten 30 Jahren ganz, ganz offenkundig versäumt haben.«[2]

Gedanken wie die von Wendell Berrys endlich veröffentlichtem »Essay über gutes Menschsein«, Körper und Erde, sind in diesem Zusammenhang wichtig, ist seither auch viel Zeit vergangen und viel Land verloren.

 

Wendell Berry, Körper und Erde
www.think-oya.de
Buchbesprechung von Matthias Fersterer
Leseprobe

Abbildung: thinkOya

Bei der Berlinale 2017 wurde der Film Look & See: A Portrait of Wendell Berry der US-amerikanischen Regisseurin Laura Dunn gezeigt.


[1] Vgl. Geoff Cunfer, Fridolin Krausmann, »Sustaining Agricultural Systems in the Old and New Worlds: A Long-Term Socio-Ecological Comparison«, in: Simron Jit Singh et al., Long Term Socio-Ecological Research: Studies in Society-Nature Interactions Across Spatial and Temporal Scales, Dordrecht 2013, S. 269-296.
[2] »Wohnen in der Zukunft. Philosoph Peter Sloterdijk und Architekt Werner Sobek diskutieren im Kunstmuseum Wolfsburg«, von Arno Orzessek, Deutschlandfunk, 1.3.2009, http://www.deutschlandfunk.de/wohnen-in-der-zukunft.691.de.html?dram:article_id=52559 (Stand 13.10.2016).