Kreuzberger Salon 87 | Der Koch, die Malerin und die Alchimie

Foto: Helmut & Johanna Kandl

Der Koch, die Malerin und die Alchimie
Ein Abend mit Johanna und Helmut Kandl.
Vortrag und Präsentation mit Material- und Kostproben

»Meine Eltern hatten an der Brünner Straße im 21. Wiener Gemeindebezirk eine Farbenhandlung. Mein Vater hat sogar selbst Farbe erzeugt – mit dem Namen Resistenta. Die Marke hat sich nicht lange gehalten. Das Geschäft auch nicht.
Vieles in unserem Geschäft war noch nicht verpackt; Reisstärke, Leim, Kalk, Kreide und Pigmente wurden offen verkauft. Der Perlleim klebte an den Fingern, wenn man ihn anfasste, und er hatte einen ganz speziellen Geruch. Im Hof gab es eine Kalkgrube und ein Fass mit gelöschtem Kalk. Er war wunderschön weiß wie Schlagobers, und auf der Oberfläche des Kalkwassers bildete sich ein dünner Film, wie Eis. Ein Material, schön anzugreifen – aber Vorsicht! Es war ätzend, und die Finger bekamen Runzeln.

Vor der Malerei habe ich Restaurierung studiert, die Farbstoffe, die Pigmente und ihre Geschichte haben mich immer interessiert, und ich habe nach alten Rezepten Farbe hergestellt. Beeindruckend war, mit wie wenigen Grundstoffen bis ins 18. Jahrhundert hinein gearbeitet wurde und welche Chemikalien zur Verfügung standen: Wein, Bier, Urin, Eier, Eiweiß, gefaultes Eiweiß – und aus diesen wenigen, einfachen Grundstoffen entstanden wunderbare Werke; auch heute braucht man für eine richtig gute Vergoldung – die ein sehr komplizierter und aufwändiger Prozess ist – gefaultes Eiweiß und die Haare vom Eichkatzelschwanz (da kann man endlich einmal Oachkatzelschwoaf sagen).

Als Professorin für Malerei habe ich erfahren, dass über Malmaterialien und ihre Geschichte nicht so gelehrt wird, dass ein Kosmos von Informationen über Handelsbeziehungen, ›Eroberungen‹ und Erfindungen evoziert wird – so wie bei mir selbst jedes Material sofort seine eigene Sprache spricht.

Ich rücke die Malmaterialien in den Mittelpunkt, weil das Wissen über sie verschwindet. Sie tragen viele Erzählungen in sich – politische, ökonomische, historische. Die Arbeit und die Lebensumstände der Menschen, die in den Minen oder auf den Feldern und im Wald arbeiten, bilden einen blinden Fleck im kulturellen Feld der Sichtbarkeit und dieser blinde Fleck interessiert mich. […]«
Johanna Kandl

 

»Johanna Kandl beschäftigt sich in der Ausstellung [Material. Womit gemalt wird und warum (Belvedere, Wien, 12. September 2019–19. Januar 2020)] mit der substanziellen Seite der Kunstwerke. Ihr geht es dabei nicht um reine Materialkunde, sondern um das Aufzeigen aktueller Fragestellungen, in der Wissenschaft seit einigen Jahren als ›Material Turn‹ (Wende zum Material) bezeichnet. Die Neuaufwertung des Analog-Stofflichen ist als Paradigmenwechsel im Zeitalter der Digitalisierung zu sehen. Dieser Forschungsansatz analysiert den Stellenwert von Material in der Gesellschaft. Kandl recherchiert diesbezüglich seit einigen Jahren und reist zu den jeweiligen Herkunftsorten, zum Beispiel auf die Insel Hormus, in den Sudan, nach Sumatra oder auch in die Slowakei. So werden beispielsweise anhand von harz- und gummigebenden Pflanzen (Gummi arabicum, etwa im Sudan) Themen wie wirtschaftliche Nachhaltigkeit für die Bewohner_innen der betroffenen Region angesprochen. Im Zusammenhang mit Pigmenten werden wiederum problematische Auswirkungen des Bergbaus auf die Umwelt und Konflikte zwischen Aktivisten und globalen Abbaufirmen thematisiert.
[…] Gemälde, Fotos und Filmbeiträge […] interagieren mit Mineralien, Pigmentproben, Präparaten und Archivalien. So entsteht ein Narrativ, das zwischen sachlicher Dokumentation und persönlicher Fiktion oszilliert. Johanna Kandl bringt […] nicht nur ihren distanziert-wissenschaftlichen Blick ein, sondern auch die emotional-persönliche Verbundenheit, die sich von ihrer Herkunft aus einer Familie von Farberzeugern und -händlern und ihrer Ausbildung zur Restauratorin herleitet. Gemeinsam mit ihrem Mann Helmut Kandl geht sie den Geschichten hinter diesen Stoffen nach und deckt dabei auch akute gesellschaftliche Fragen auf.«
www.belvedere.at/johanna-kandl (Zugriff: 29.01.2020)

Katalog: Johanna Kandl. Material. Womit gemalt wird und warum/What We Paint with and Why, hg. von Johanna Kandl und Stella Rollig, Köln 2019

 

 

 

 

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