Kreuzberger Salon 70 | Postsowjetisches Dorf

Anastasia Khoroshilova, Bezhin Lug, M. I. , aus der Serie »Früher war hier das Meer«, 2015–2017, (analoger) C-Print auf Dibond, 60 x 47 cm

Postsowjetisches Dorf
»Früher war hier das Meer«

Ich kehre zurück ins Dorf Bezhin Lug. Genau ein Jahr war ich nicht hier. Ich möchte Maria Ivanovna noch einmal fotografieren. Sie ist 86 Jahre alt und hat ihr ganzes Leben an diesem Ort verbracht. Ziemlich schnell finde ich ihr Haus in der Malenkaja-Straße. Im Hof begrüßt mich ihre Tochter; ich bitte, ins Haus eintreten zu dürfen.
Während der Aufnahmen spricht Maria Ivanovna nicht, sondern schaut nur unverwandt ins Objektiv. Meine Arbeit begleiten die ständigen Kommentare der Tochter. Sie macht sich Sorgen, weil der Ofen in ihrem Haus uneben und das Zimmer nicht mit bestickten Handtüchern geschmückt ist. Sie seien »verrottet« und man halte sie für überflüssig. Sie möchte nicht, dass der Ofen mit ins Bild kommt.
Maria Ivanovna sagt kein Wort und posiert geduldig, ohne die Tochter zu beachten.
Ich bitte sie, auf der Bank am Hauseingang Platz zu nehmen, um ein letztes Bild zu machen. Wir gehen auf den Hof. Maria Ivanovna folgt mir und setzt sich schweigend hin. Wir sprechen kein Wort. Eine Zeitlang ist nur das Klicken des Auslösers zu vernehmen. Dann tritt erneut Stille ein.
Ich muss heute noch zahlreiche andere Orte aufsuchen. Nachdem ich mich bedankt habe, beginne ich, die Ausrüstung zu verstauen, und will mich verabschieden.
Maria Ivanovna nickt mir zu und winkt mich plötzlich, völlig unvermittelt, zu sich heran. Ich trete näher. Erstmals richtet sie das Wort an mich: »Wollen Sie vielleicht wissen, was hier früher war?« »Ja, natürlich«, antworte ich höflich und stelle mich auf eine Geschichte über den Kolchos ein, den es seinerzeit hier gegeben hatte.
Maria Ivanovna hält einen Moment inne, schaut in die Ferne und sagt: »Früher war hier das Meer.«
Dann kehrt sie ins Haus zurück.

Anastasia Khoroshilova

 

Anastasia Khoroshilova, Pokrovskoje, Hauptstraße, aus der Serie »Früher war hier das Meer«, 2015–2017, (analoger) C-Print auf Dibond, 60 x 75 cm

 

»Fast alle ›Turgenjewschen Orte‹, die einst existierten und die in das Leben der Einheimischen eingeschrieben sind, gibt es heute nur noch in den Akten des Katasteramtes. Man kann sie der Erinnerung nach ausfindig machen, oder anhand einer bestimmten Anordnung der Bäume und ihrer Arten.« AK

 

• Sergej Eisenstein, Bezhin Meadow, 1937 (unvollendet; posthum rekonstruierte Fassung), www.youtube.com/watch?v=uidYVgnbeb4 (letzter Zugriff 28. November 2017)
• Pjotr Aleschkovski, Крепость (Festung), 2015
• Karl Schlögel, »Russkaja glubinka – Das Land jenseits der großen Städte«, in: Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt, München 2017, S. 460–474
• Wladimir Sorokin, Roman, Zürich 1995
• Iwan Turgenjew, »Beschinwiese«, in: Aufzeichnungen eines Jägers (Erzählungen), 1818–1883

khoroshilova.net

 

 

← zurück
Kreuzberger Salon 69 | Geschätzte Tiere
Kreuzberger Salon 71 | zum Wald