Kreuzberger Salon 71 | zum Wald

»… sechs Buchen zwei Tannen eine Fichte eine Erle«
Taras Prochasko, Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen

zum Wald

»[…] es muss als gegeben vorausgesetzt werden, dass immer etwas als gegeben konstruiert wurde.«
Eduardo Viveiros de Castro, Die Unbeständigkeit der wilden Seele

Das Wort »Landschaft« bezeichnet nach dem gebräuchlichen französischen Wörterbuch, das François Jullien in Von Landschaft leben zitiert, einen »Teil des Landes, den die Natur einem Beobachter darbietet«.[1] Die besondere Rolle, die dem Blick dabei zukommt, führte nicht von ungefähr zu einer weiteren Bedeutung des Wortes »Landschaft« im Sinne von »Gemälde, das eine Landschaft darstellt«.[2] Diese Doppeldeutigkeit, etwas in Natur und Kunst gleich zu bezeichnen, ist nichts speziell Französisches. Sie findet sich auch in anderen europäischen Sprachen wieder, beispielsweise im Artikel »Landschaft« des Wörterbuchs der deutschen Sprache von Jakob und Wilhelm Grimm. Und was für Landschaft als Ganzes gilt, scheint auch für Teile zu gelten. So werden beim Wort »Waldbild« ebenfalls zwei Bedeutungen angeführt als »1) durch einen wald gegebenes bild« und »2) bild, auf dem ein wald dargestellt ist«.

Was genau aber ist damit gemeint, wenn die Natur etwas darbietet oder ein Wald ein Bild gibt? Ist das metaphorisch gesprochen, d. h. sind das bildliche Ausdrücke? Wie verteilen sich hier Aktivität und Passivität? Entstehen die Bilder im Kopf, sind sie eine menschliche Wahrnehmungsleistung? Oder wird der Natur hier Wirkungsmacht zugesprochen? Sind auch das »Gratisleistungen der Natur«, wie sich August Strindberg im 19. Jahrhundert ausgedrückt hat?[3] Handelt es sich nach aktuellen Konzeptionen dabei gar um Ökosystemdienstleistungen auf kulturellem Gebiet?

Auffällig ist, dass diesseits wie jenseits solcher Fragestellungen die Konjunktur, die Land und Landschaft seit einiger Zeit haben, immer mehr zum Wald übergeht. Dabei decken neue Bücher ein breites Spektrum ab, von populärwissenschaftlichen Bestsellern mit vermenschlichenden Ansätzen wie Das geheime Leben der Bäume. Was sie fühlen, wie sie kommunizieren … (Peter Wohlleben) bis hin zu epistemologischen Reflexionen wie How Forests Think: Toward an Anthropology beyond the Human (Eduardo Kohn).

Ist der Wald auf der trivialen Seite einfach nur ein neuer Fluchtpunkt, nachdem sich die Augen nicht mehr vor der Tatsache verschließen lassen, dass das – von Energiewende und den Auswirkungen der Gemeinsamen Agrarpolitik geprägte – Land für idealisierende Projektionen nicht mehr herhalten kann? Oder gelingt mit dem neuen Verständnis des Waldes im High-End-Bereich der Diskurse der Ansatz für eine ontologische Wende?

 

 


[1] François Jullien, Von Landschaft leben oder das Ungedachte der Vernunft, Berlin 2016, S. 14.
[2] Ebd., S. 15.
[3] August Strindberg, Unter französischen Bauern [1886], München 1917, S. 171.

 

 

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