Kreuzberger Salon 41 | Verlorenes Land

DSCF5119Verlorenes Land

»Auf meiner alten zusammengeklebten Landkarte sind die Ortsnamen auf rumänisch, ungarisch und deutsch verzeichnet. Țara Secuilor, Székelyföld, Szeklerland. Niemand hat daran gedacht, sie auch in Romani zu schreiben. Ich glaube, die Zigeuner sind daran am wenigsten interessiert. Ihre Geographie ist mobil und ungreifbar. Gut möglich, daß sie unsere überlebt.«[1]
Andrzej Stasiuk, Unterwegs nach Babadag

Nach der ungarischen Landnahme in Siebenbürgen/Transsilvanien wurden dort im Mittelalter ungarische Szekler, dann auch Siebenbürger Sachsen angesiedelt. Beide Gruppen erhielten von der ungarischen Krone Land und weitreichende Privilegien, Rumänen dagegen wurden marginalisiert. Szeklern und Sachsen gelang es, ihre Eigenständigkeit und Identität über Jahrhunderte hinweg zu erhalten. Siebenbürgen überstand die zweihundertjährige osmanische Epoche und war anschließend im Habsburgerreich weitgehend autonom, bis es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die ungarische Hälfte der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn eingegliedert wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor Ungarn zwei Drittel seines Gebiets, Siebenbürgen kam zu Rumänien. Durch Ansiedlung von Rumänen und administrative Maßnahmen büßten Szekler und Sachsen ihre historische Vormachtstellung ein. In der Folge setzten Abwanderungsbewegungen von Szeklern nach Ungarn und von Sachsen nach Deutschland ein – mit dem Verlust ihres Landes.

Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen ging nach dem Ende des Kommunismus mit einem Exodus in den Neunzigerjahren zu Ende. Diejenigen, die nicht gingen, bezeichnen sich selbst ironisch als »Zurückgebliebene«. Von der seit rund 800 Jahren deutschen Kultur der Siebenbürger Sachsen sind mittelalterliche Städte, farbenprächtige Dörfer, eine durch händische Bearbeitung überformte Landschaft geblieben. Aber in Siebenbürgen hat sich noch etliches mehr erhalten, was andernorts bereits verschwunden ist: Pferde und Menschen anstelle von Traktoren auf dem Feld, Hirten, die mit ihren Schafen übers Land ziehen, Familien, die Käse produzieren, Brot backen, Vorräte für den Winter einkochen, Schnaps brennen, selber schlachten. Vieles entsteht in Gemeinschaftsarbeit. Gastfreundschaft ist ein Gebot, Ernährungssouveränität lebensnotwendig.

Die Schattenseite dieser Subsistenzwirtschaft sind ein niedriges Bruttoinlandsprodukt – Rumänien ist nach Bulgarien das zweitärmste Land in Europa – und eine unter der Arbeitsbelastung stöhnende Landbevölkerung, die sich für ihre Kinder ein besseres Leben in der Großstadt wünscht.

Dieser generell osteuropäische Hintergrund war Anlass der Bemühungen, mit denen der rumänische EU-Agrarkommissar Dacian Cioloș (2010–2014) die Agrarreform 2013 zu gestalten versucht hatte: mit Maßnahmen auch für eine ökologische und bäuerliche Landwirtschaft gegen den Widerstand der Agroindustrie. Vonseiten der rumänischen Regierung aber wird dies konterkariert: Gelder, die für die ländliche Entwicklung vorgesehen sind, werden umgewidmet, um Kleinbauern mit Prämienzahlungen zur Aufgabe ihrer Betriebe zu bewegen. Sie folgt damit der Generalrichtung der EU-Agrarpolitik zu Rationalisierung und Intensivierung der Landwirtschaft. Betrachtet man die in der Landwirtschaft Beschäftigten, so entfallen 95 Prozent auf Kleinbetriebe und nur 5 Prozent auf Großbetriebe, von den 9 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Fläche aber sind Schätzungen zufolge bereits bis zu 4 Millionen in der Hand von Großbetrieben. Nachdem anfänglich ehemals staatliche Betriebe in den Besitz von Oligarchen übergegangen sind, ist der rumänische Bodenmarkt seit 2014 auch für ausländische Investoren offen. Ein gemäßigtes Klima, niedrige Preise und hohe Rechtssicherheit machen die fruchtbaren Böden besonders attraktiv. Eine neue Landnahme ist im Gange.[2]

Wer nie Land besessen hat, das sind die Roma. »Sie waren etwa zweihundert Jahre später gekommen als die Siebenbürger Sachsen, keiner hatte sie hergebeten. Sie hatten weder eine Vorstellung ihres Vaterlands mitgebracht noch Bilder ihrer Häuser und Kirchen, die sie hätten nachbilden können. Ihre Erinnerung kannte keine Geschichte, nur Sagen, Märchen und Legenden«[3], schrieb Stasiuk. »Das verlorene Land« ist die titelgebende Legende zum Ursprungsmythos im gleichnamigen Band der Roma-Schriftstellerin Luminița Mihai Cioabă.[4] Auch bei der Landvergabe zum Ende der Leibeigenschaft im 19. Jahrhundert sind die Roma leer ausgegangen.

 

Literatur
• Pierre Souchon, »Teodors Honig«, Le Monde diplomatique, 14.3.2014, online abrufbar (letzter Zugriff: 12. November 2014) 


[1] Andrzej Stasiuk, Unterwegs nach Babadag, aus dem Polnischen von Renata Schmidgall, Frankfurt am Main 2005, S. 94.
[2] »Land Issues and Access to Land«, http://www.ecoruralis.ro/web/en/Programs_and_Activities/Land_Issues_and_Access_to_Land/, (letzter Zugriff: 10. November 2014).
[3] Stasiuk (wie Anm. 1), S. 92.
[4] Luminița Mihai Cioabă, Das verlorene Land / Țara pierdută / O čem o hasardo / The lost country, Sibiu 2012.

 

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