Kreuzberger Salon 40 | Stadt Land Fluss

ThemseStadt Land Fluss

»Die Stadt«, heißt es bei August Strindberg, bevor er zu seiner journalistischen Bestandsaufnahme der französischen Provinz aufbricht, »ist nicht die Wohltäterin des Landes«[1]. Festgemacht wird dieses Urteil vor allem an der Asymmetrie der organischen Stoffflüsse. »Sie verschlingt jährlich 26 Millionen Franken an Fleisch, 38 Millionen an Hühnern und Wild, 21 Millionen an Fischen, 34 Millionen an Butter, 2 Millionen an Obst, 1 Million an Gemüse; und sie gibt von sich jede Sekunde 25 Liter Dünger, der durch den grossen Rinnstein Seine ins Meer geschüttet wird …«[2]

Was Strindberg 1885 beim Blick vom Montmartre auf die französische Hauptstadt offensichtlich nicht wusste: Paris hatte seinerzeit schon ein System entwickelt, die Abwässer nicht mehr alle in die Seine zu leiten. Diese Praxis hatte aufgrund der geringen Fließgeschwindigkeit den Fluss ab Paris kilometerlang in einen Morast verwandelt. [3]

Die andere große europäische Metropole und damals größte Stadt der Welt, London, war noch unmittelbarer mit ihren Abwässern konfrontiert worden. Der Rückstau hatte im Sommer 1858 Ausmaße angenommen, die als »Great Stink« in die Stadtgeschichte eingegangen sind und zum Bau des Londoner Abwassersystems führten. Über Pumpwerke wurden die Abwässer damit aus der Stadt herausgeleitet und von einem großen Auffangreservoir aus bei Ebbe über die Themse in Richtung Meer entlassen. In neuerer Zeit ging man zur Verklappung der ausgefilterten Feststoffe in der Nordsee über, bis dieser Praxis durch EU-Gesetzgebung 1998 ein Ende bereitet wurde. Jetzt werden die Abwässer dehydriert und der getrocknete Klärschlamm im Kraftwerk verbrannt.

Entgegen diesem Einbahnstraßensystem im Umgang mit dem Abfall, hatte Paris ein Kreislaufsystem entwickelt und die Stoffe in das städtische Ernährungssystem wieder zurückgeführt. Über Pumpstationen wurden ab 1869 Gärten in Gennevilliers berieselt, die sich erfolgreich ausdehnten. (Das Modell wurde von James Hobrecht für Berlin, das die Spree mit seinen Abwässern ebenfalls überfordert hätte, übernommen. Die Rieselfelder waren bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in Betrieb.) Ideengeschichtlich hatte es zu dieser Verwendung in Frankreich mit Pierre Leroux’ Theorie des Circulus bereits einen Vorläufer gegeben, inspiriert auch von der Verwendung von Exkrementen in der hortikulturellen Praxis Chinas. Dies war natürlich auch in Großbritannien nicht unbekannt gewesen und diskutiert worden. Doch trotz der allgemeinen Bewunderung für chinesische Effektivität und Organisation war die Verwendung des euphemistisch »night soil« genannten Stoffes abgelehnt worden. Es erschien unvereinbar mit dem Selbstverständnis einer zivilisierten westlichen Nation.

Strindberg geht im Verlauf seiner Frankreich-Reise mehrmals auf lokale Kreislaufsysteme und kleine Landwirtschaft inklusive der Verwendung des Düngemittels, »was jetzt das chinesische genannt wird und was der Europäer verworfen hat«[4], ein. Angeregt auch durch die Lektüre von La Cité Chinoise (1885) von Eugène Simon.

Mit dem vorläufigen Siegeszug des Kunstdüngers und der Industrialisierung der Landwirtschaft ist all das heute auf dem Rückzug. Die Urbanisierung in China frisst Flächen und geht auf Kosten der stadtnahen Ernährungssysteme.

 

 


[1] August Strindberg, Unter französischen Bauern, München und Berlin 1917, S. 7.
[2] Ebd., S. 8.
[3] Vgl. hier und im Folgenden Carolyn Steel, Hungry City. How Food Shapes Our Lives, London 2009, S. 249–259, 274–278.
[4] Strindberg, ebd., S. 252.

 

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