Kreuzberger Salon 38 | Halbzeit

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In seinen Überlegungen zum Zeitmaß spricht sich Maurice Maeterlinck (1862–1945) für eine bewusst andere Wahrnehmung des Sommers aus. In Abkehr von der überörtlich geltenden Zeit und ihren Chronometern, überlässt er sich der tatsächlich lokalen Tageszeit, wie sie auf der Sonnenuhr angezeigt wird. Das war nicht bloß als Anleitung zur Intensivierung von saisonalen Mußestunden jenseits bürgerlicher Geschäftigkeit gedacht. »Wanduhr, Sanduhr und die vergessene Wasseruhr geben nur abstrakte Stunden an, ohne Antlitz und Gestalt. Sie sind die Werkzeuge unserer blutlosen Zimmerzeit, der gefangenen Sklavin; aber die Sonnenuhr zeigt uns den wirklichen, zitternden Flügelschatten des grossen Gottes, der im Äther schwebt.«[1] Einige Jahre zuvor hatte Gabriel Tarde (1843–1904) die technischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts und die Nutzung fossiler Energien als Befreiung des Menschen von der unmittelbaren Sonnenenergie betrachtet, mit denen dieser »die Nacht zum hellichten Tag, den Winter zum Sommer sowie aus dem Norden Süden«[2] machen konnte.

Maeterlincks Rückkehr zur Sonne bedeutet, dass nicht überall im Land um dieselbe Zeit zwölf Uhr Mittag ist, sondern immer nur dort, wo die Sonne gerade im Zenith steht. Der Autor von Das Leben der Bienen und Die Intelligenz der Pflanzen hatte zudem einen skeptischen Blick auf das menschliche Selbstverständnis als privilegierte Wesen und ihre absolute Trennung von Tieren und Pflanzen.[3] Er widmete sich ihnen, als die naturwissenschaftliche Forschung noch nicht wusste, wie etwa Pflanzen die Veränderungen des Tageslichts messen, um ihr Blühen zu terminieren, oder Bienen zur Sommersonnenwende ihr Verhalten umstellen – wenn »Halbzeit« ist nach dem Kalender der Natur und die Vorbereitungen auf das Jahresende beginnen.

Nach St. Veit, da ändert sich die Zeit, sagt eine Bauernregel. Der 15. Juni, Tag des heiligen Veit, galt im Mittelalter als Anfang des Mittsommers. Jetzt sind die Tage am längsten, und je weiter man nach Norden kommt, desto heller bleibt es in der Nacht. Aus Russland sind die Weißen Nächte bekannt, in vielen baltischen und skandinavischen Ländern ist es alter Brauch, die Mittsommernacht zu feiern. Am 21. Juni steht die Sonne senkrecht über dem nördlichen Wendekreis und erreicht damit ihren höchsten Stand. Sonnenwende, im Griechischen hēliostásion genannt‚ heißt eigentlich »Stillstand der Sonne«.

War das Zeitempfinden bei steinzeitlichen Jägern und Sammlern noch von den Wanderungen der Tiere, vom Tag-Nacht-Wechsel und den Mondphasen geprägt, wurde seit dem Übergang der Menschen zur agrarischen Kultur und dem Beginn der Sesshaftigkeit das Sonnenjahr Taktgeber. Was weitaus anspruchsvoller ist, da es angesichts der nur allmählichen Verschiebung der Sonne eine systematische Beobachtung von einem festen Standpunkt voraussetzt. Die Himmelsscheibe von Nebra, das Sonnenobservatorium von Goseck, das gleichzeitig Versammlungs-, Handels-, Kult- und Gerichtsplatz war, oder die Anlage von Stonehenge sind Beispiele für den bereits in der Jungsteinzeit astronomisch ermittelten Jahresablauf, dessen Kenntnis für Bodenbearbeitung, Aussaat und Ernte lebensnotwendig war.

Ähnliches gilt für ein regionalen Beobachtungen geschuldetes Erfahrungswissen über den Zusammenhang von Wetterveränderungen und deren Auswirkungen auf die Landwirtschaft: lokale Kausalitäten, die in den Bauernregeln pauschal gefasst, aber nur schwer verallgemeinerbar sind, zumal verschiedene Kalenderreformen zu zeitlichen Verschiebungen geführt haben.

Zeit ist heute von etwas Rituellem, Kultischem zu einer exakt messbaren und scheinbar beherrschbaren Größe geworden. Synchronisierung und Digitalisierung haben die Tendenz zur Standardisierung befördert und beanspruchen heute globale Gültigkeit. Anders als bei der Sonnenuhr, die nur die lichten Stunden zählt und somit die lokale Zeit, legt sich heute ein einheitliches Raster über die Welt. Tag und Nacht haben sich angeglichen, Biorhythmen lassen sich anders takten, Pflanzen durch künstliche Lichtsignale in ihrem Wachstum beeinflussen. Nachtaktive Tiere z.B. aber werden durch künstliches Licht gestört. Nur der Mensch scheint zu profitieren von der eigenmächtigen Aufhebung der von der Sonne bestimmten Zeit.

Unsere über den Einsatz fossiler Energien gesteuerte Umwelt hat uns in der Tat von der lokalen Verfügbarkeit lebensnotwendiger Ressourcen wie dem Sonnenlicht befreit. Und die Bindung an den Ort aufgekündigt. Aber das »Gutshaus moderner Freiheiten« (Dipesh Chakrabarty) benötigt zu seinem Unterhalt eine ständig wachsende Menge fossiler Brennstoffe.[4] Und so hat sich im Schatten dieser Befreiung eine schleichende Veränderung vollzogen, die heute und in aller Zukunft unsere Realität bestimmt: Klimawandel.

Naomi Klein schreibt in ihrem neuen Buch von einem Außer-Tritt-Geraten (out of sync) von Prozessen wie dem Schlüpfen der Jungvögel und der Verfügbarkeit von Insekten als Futter für die Brut. Evolution hat ihr eigenes Tempo, das durch Umwelteinflüsse mancherorts vorgezogene resp. verlangsamte Entwicklungen erst allmählich adaptiert – ein »mismatch«, das essenziell für das Überleben bzw. Nicht-Überleben vieler Spezies ist. Das Kulturwesen Mensch inklusive.

Dass dieses Asynchron-Werden lange nicht bemerkt wurde, hängt mit der Ortlosigkeit des modernen Lebens, positiv gewendet: unserer Mobilität, zusammen. Wer keinen festen Standort hat, verliert langsam verlaufende Prozesse aus dem Blick. Befragt nach einem »advice for rootless people«, erhält Naomi Klein vom amerikanischen Umweltaktivisten und Schriftsteller Wendell Berry folgenden Rat:

»Stop somewhere … and begin the thousand-year-long process of knowing that place.«[5]

 



[1] Maurice Maeterlinck, »Das Zeitmass«, in: Die Intelligenz der Blumen [1907], Jena 1914, S. 80f.
[2] Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung [1890], Frankfurt am Main 2003, S. 265. »Je höher das Leben jedoch entwickelt ist, desto weniger ist es bereit, sich wie ein Kreisel unter der Peitsche der Sonnenstrahlen zu drehen.« Ebd.
[3] Maurice Maeterlinck, »Die moralische Krisis«, in: ebd., S. 96
[4] Vgl. Dipesh Chakrabarty, Europa als Provinz, Frankfurt/New York 2010, S. 181.
[5] Wendell Berry, zit. nach Naomi Klein, »This is a story about bad timing«, Vorabdruck aus ihrem neuen Buch This Changes Everything: Capitalism vs The Climate Change, das im September 2014 bei Allen Lane erscheinen wird, The Guardian, 23. April 2014.

 

 

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