Kreuzberger Salon 5 | Stadt sieht Land schafft

Stadt sieht Land schafft

»Wenn uns die Natur, das Land, die Landschaft etwas geben oder lehren kann, dann das einfache Schauen, das zweckfreie Hinblicken. Die Natur ermöglicht ein Loslassen, ein Träumen (…).«[1]

Mit diesen Sätzen artikuliert die Kunsthistorikerin Viola Vahrson geradezu idealtypisch die Idee des interesselosen, also ästhetischen Blicks. Es scheint dabei um eine Sichtweise zu gehen, die das Privileg hat, ohne Arbeit oder Anstrengung eine Gabe oder Lehre zu erhalten. Und das, ohne die Landschaft dabei zu mindern, ohne ihr etwas wegzunehmen, aber auch ohne Gegenleistung oder Tauschgut des Blicks. Das ästhetische Schauen geschieht ganz aus der Distanz heraus, ohne dass es der Landschaft etwas schuldig bliebe.

Auch wenn hier »die Natur, das Land, die Landschaft« in eins gesetzt werden – eine häufig vorkommende begriffliche Unschärfe –, so sind sie doch durchaus verschieden. Aus dem, was einmal im ursprünglichen Sinne Natur war, sind mit Entstehung und Entwicklung der agrikulturellen Lebensweise Land und Stadt hervorgegangen. Und wenn sich der Städter aus der Stadt hinausbegibt, so sieht er dort Landschaft. Landschaft aber ist ein Konstrukt städtischer Wahrnehmung. Darauf hat Lucius Burckhardt, Begründer der Spaziergangswissenschaft (Promenadologie), immer wieder hingewiesen:

»Die Landschaft, die wir in diesem Sinne betrachten, kann nicht ohne die Stadt existieren. Nur dem Auge des Städters erscheint die Umgebung der Stadt als Landschaft. (…) Ein Bauer geht schauen, ob der Nachbar mehr Kohl ernten wird, ob dessen Kirschen schon reif sind, oder ob jener den Mist schon ausgefahren hat. Das ist eine andere Landschaftswahrnehmung. Er spricht zunächst einmal von ihrer Nutzung, Ausbeutung, von ihrem Ertrag. Ganz im Gegensatz zum spazierenden Städter, der eine Landschaft ohne ökonomisches Interesse betrachtet, ohne gleich die Qualität des Bodens und besonders geeignete Stellen für die Kartoffelsaat zu erkennen. Der Städter nimmt die Landschaft sogleich auf einer ästhetischen Ebene wahr.«[2]

Letztlich gehen die Wurzeln dieses Landschaftsbegriffs auf die griechische und römische Antike zurück. Am Anfang waren es Dichter und Maler, die für den freien Städter, dessen Landgut durch Sklavenarbeit bewirtschaftet wurde, Landschaftsbilder hervorgebracht und kultiviert haben, in Sprache, Dichtung, Malerei. Von da an zieht sich der Gegensatz zwischen dem Städter mit seinem beherrschenden, freien Überblick einerseits und dem der Scholle verhafteten Landvolk andererseits wie ein Muster durch die Ideengeschichte. Hansjörg Küster verweist in Schöne Aussichten. Kleine Geschichte der Landschaft auf den alten Hirten, dem Petrarca 1336 bei seiner kanonisch gewordenen Besteigung des Mont Ventoux begegnet. Der Hirte will den Dichter von der Bergbesteigung abhalten. Er selbst war in seiner Jugend einmal auf dem Berg und habe nur Schrammen und zerrissene Kleidung mitgebracht.[3] Die Lehre oder Gabe, die im ästhetischen Blick liegen kann, hat er nicht erfahren.

Ökonomisches Interesse und ästhetischer, quasi zweckfreier Blick sind voneinander streng geschieden, so wie die vita activa von der vita contemplativa. Diese Trennung zieht sich weiter durch die Geschichte: einerseits eine Privilegierung des Sehens, ohne sich arbeitend die Hände oder die Kleidung schmutzig zu machen, andererseits die Versenkung in die landwirtschaftliche Produktion, ohne dabei einen Blick für das Ganze zu haben. Lässt sich diese Zweiteilung aufheben? Oder gibt es einfach zwei grundsätzlich verschiedene Zugangsweisen zur Welt?

Der französische Schriftsteller Francis Ponge hat in seiner Miniatur »Die Landschaft« eine Haltung einzunehmen versucht, die nicht bloß distanziert schaut, sondern den Leib als Sitz aller Sinne und als Durchgangsmedium erlebt. Abgrenzungen sowohl im Inneren zwischen Körper und Geist als auch zwischen Innen und Außen sollen durchbrochen werden.

»Der Horizont, mit dunstigen Akzenten versehen, scheint in kleinen Schriftzeichen geschrieben zu sein, mit einer Tinte, die je nach den Spielen des Lichtes mehr oder minder blaß wirkt. / Was davorliegt, genieße ich bloß noch wie ein Bild, / Was noch näher liegt, wie Statuen oder Architekturen, / Dann die Realität der Dinge selbst bis an die Knie wie Nahrung, mit einem echten Völlegefühl, / Bis schließlich alles in meinen Körper hineinstürzt und durch den Kopf wieder hinaus wie durch einen Kamin, der sich mitten in den Himmel öffnet.«[4]

Auch Michel Serres’ Anliegen, gleichzeitig einen Blick für das Panorama wie für das Detail zu entwickeln, setzen das fort; er fordert, die Genese und Genealogie von Landschaft nachzuvollziehen.

»Fragen Sie nicht mehr, wie man eine Landschaft sieht, das ist die Frage eines verwöhnten Kindes, das nie gearbeitet hat; versuchen Sie herauszufinden, wie der Gärtner sie gezeichnet hat; wie der Bauer sie in Jahrtausenden zu jenem Gemälde komponiert hat, das sie dem Philosophen zeigt, in den Museen oder in den Büchern.«[5]

Lucius Burckhardt fragt: »Warum ist Landschaft schön?« und rekapituliert die Geschichte der Ästhetik der Landschaft. Gleichzeitig erkundet er die Möglichkeit neuer ästhetischer Zugänge, so etwa auf dem Terrain der Brache.

Diesen dichterischen und philosophischen Ansätzen gegenüber erleben wir heute allerdings eine sehr prosaische Spektakularisierung von Landschaft. Wenn die Sphäre des bloßen Schauens und des einfachen Spazierengehens verlassen wird, dann um Landschaft durch Freizeit-, Trend-, Extrem- und Fitnesssportarten heimzusuchen.

Für die gegenwärtige Situation sind u. a. folgende Aspekte virulent:

• Den einzelnen Entdeckern oder Pionieren einer Landschaft, den ersten Bildgebern, sind oft die Massen auf den Fersen. Die jeweilige ästhetische Hervorbringung einer Landschaft (der Lüneburger Heide, der Alpen, des Rheins etc.) beginnt somit vereinzelt durch Individuen und wird dann nach und nach popularisiert und vulgarisiert. Es beginnt »ein zerstörerischer Tourismus übersättigter Kurzweil«[6] mit den bekannten Auswirkungen, dass eben dasjenige verschwindet, was eigentlich gesucht wurde. Petrarca wurde so zum Gründungsvater des Alpinismus. Er war mit seinem Bruder noch alleine auf dem Gipfel. Heute muss man selbst am Mount Everest Schlange stehen, und der Aufstieg wird von Müllbergen der Vorgänger gesäumt.

• Die heutige Ausweitung der Verstädterung führt zu einem verstädterten Blick und Verhalten auch bei der ehemaligen Landbevölkerung. Touristen ergehen sich nicht mehr mit »interesselosem Wohlgefallen«, sondern fordern, das Beschwerdeformular quasi immer dabei, durch idealtypische Landschaftsbilder erwartete, konkrete Erlebnisse ein.

• Durch die Geschwindigkeit von Veränderungen in der Landschaft kollidieren Landschaftsbilder – Bilder bilden immer Vergangenes ab – und Landschaftswirklichkeit allerdings immer häufiger.

• Dort, wo das Land von ökonomischen Realisten mit Visionen verplant wird, bleibt für den ästhetischen Blick nichts mehr übrig. Ist es gar so, dass die Rationalisierung »zu langweiligen, häßlichen Ergebnissen: zu einer Welt ohne Landschaften«[7] (Michel Serres) führt? Wenn Landschaftsbilder im Gegensatz Stadt/Land ihren Ursprung haben, dann ist mit der Totalisierung von Verstädterung und Landschaft vielleicht auch ein »Ende der Landschaft« denkbar.

Jörg Dettmar formuliert es so:

»Egal ob man bei dem Arbeitstitel Zwischenstadt bleibt oder von fragmentierten urbanen Landschaften spricht – jenseits aller theoretischen Betrachtungen steigert sich die Ausdehnung dieser Räume und ihre Hässlichkeit.«[8]

Was zwischen ländlichen Flächen für Agroindustrie und Energiegewinnung an einigen Standorten übrig bliebe, wäre bestenfalls noch Landschaft als Dienstleistung.

 


[1] Viola Vahrson, »Muße: flüchtig, scheu und anspruchsvoll«, in: Anja Osswald, Karsten Wittke (Hg.), (Un-)Mögliche Räume – Kreativ wirtschaften auf dem Land, Berlin 2008, S. 42.
[2] Lucius Burckhardt, »Bergsteigen auf Sylt« (1989), in: Lucius Burckhardt, Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, hg. von Markus Ritter und Martin Schmitz, Berlin 2008, S. 307f.
[3] Hansjörg Küster, Schöne Aussichten. Kleine Geschichte der Landschaft, München 2009, S. 9.
[4] Francis Ponge, »Die Landschaft«, in: ders., Stücke, Methoden. Ausgewählte Werke, Frankfurt am Main 1968, S. 59.
[5] Michel Serres,  Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt am Main 1998, S. 318.
[6] Brita Reimers, Vorbemerkung, in: Gärten und Politik. Vom Kultivieren der Erde, hg. von Brita Reimers, München 2010, S. 7.
[7] Serres, a.a.O., S. 321.
[8] Jörg Dettmar, »Urbanisierte Landschaft – Kulturlandschaft der beschleunigten Gesellschaft«, in: Brita Reimers (Hg.), Gärten und Politik. Vom Kultivieren der Erde, München 2010, S. 187.

 

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