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Gehen

»Manche gehen überhaupt nicht, andere gehen auf den Landstraßen; wenige gehen querfeldein.«
Henry David Thoreau, »Vom Gehen«[1]

»… die Spaziergänger mißtrauen Leuten, die nicht spazierengehen, keine Spaziergänger sind, die Anachronistiker usf. … und so ist diese schöne Landschaft auf die merkwürdigste Weise, diese unsere Landschaft von einem ununterbrochenen, in Wahrheit alles verdüsternden Mißtrauen durchzogen, ein feines Gewebe aus Mißtrauen der Spaziergänger gegen die Nichtspaziergänger durchzieht diese Landschaft.«
Thomas Bernhard, Ungenach[2]

In einer aktuellen Veröffentlichung hat Reinhard Piechocki, Mitglied des Kuratoriums der Deutschen Umweltstiftung, die »Idealbilder von der Natur, die wir Menschen im Kopf haben« angesprochen, sich gefragt: »Aber woher kommen diese Bilder? Und warum sind sie so wirkungsmächtig?« und schließlich resümiert, dass über »diese kulturellen Motive (…) bisher zu wenig reflektiert« wird.[3]

Nicht auf unsere Bilder von Natur, sondern auf die damit in Zusammenhang stehenden Bilder von Landschaft zielte Lucius Burckhardt beständig mit seiner zentralen Frage: »Warum ist Landschaft schön?« Die von ihm begründete Spaziergangswissenschaft (Promenadologie) erkundet, wie Landschaftsbilder regelrecht ›ergangen‹ worden sind. Sie sind Resultat einer zunächst meist von einzelnen Personen oder kleinen Gruppen, oft Künstlern oder Schriftstellern, gemachten Erfahrung. Die Materialisation dieser Prozesse als Literatur oder Gemälde beginnt dann unter Umständen eine Karriere, die dazu führt, dass größere Bevölkerungsschichten diese Erfahrungen nachvollziehen bzw. sich in ihrer Wahrnehmung von Landschaft durch sie prägen lassen. Dort wo Caspar David Friedrichs einsames Herumklettern in den Kreidefelsen der Insel Rügen zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch Befremden und Kopfschütteln der einheimischen Bewohner auslöste[4], suchen heute durch Parkplätze und Wegesysteme kanalisierte Besucherströme nach Friedrichs Bildern entsprechenden Eindrücken. Wie die Pfade eines Querfeldeingängers zu Infrastruktur wurden, so prägen seine Bilder die Struktur der Wahrnehmung.

Entscheidend für die Genese von Landschaftsbildern ist also zunächst ein gewisses überschreitendes Verhalten, das Eindringen eines Außenstehenden in ein bislang unbegangenes Territorium der Wahrnehmung, ein Übergang von einem Raum in einen anderen, von der Stadt auf das Land. Zumindest gilt dies historisch, also spaziergangstheoretisch im Blick zurück auf das für uns in seiner Normativität immer noch wirksame 19. Jahrhundert. Denn Stadt und Land waren damals noch klar durch eine Stadtmauer voneinander getrennt. Heute sieht das anders aus. In praktischer Hinsicht, also bei Burckhardts Exkursionen mit Studenten (dem, was er »action-teaching«[5] nannte), ergab sich deshalb noch etwas anderes über das rein nachvollziehende, historische Verstehen hinaus. Denn der Spaziergangswissenschaftler macht als Spaziergänger in der Gegenwart zugleich eigene Erfahrungen und Wahrnehmungen. Es ist diese konstruktive oder kreative Seite des Spaziergangs, die seine Offenheit zur künstlerischen Praxis hin ausmacht und deshalb heute auch in ihr fortgesetzt wird.

Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert lässt sich die gegenwärtige Situation schlaglichtartig mit einigen Formulierungen Jörg Dettmars beschreiben: »Transformation des ländlichen Raums durch den urbanen Lebensstil«, »Verschwinden alter Kulturlandschaften«, »Auflösung der traditionellen Vorstellung von ‘Stadt und Land’«, »Entstehung urbanisierter Landschaften«[6] usw.

Es scheint so, als wäre es heute gleichermaßen schwierig, tradierte Schönheit unbefleckt wahrzunehmen, als auch sich ›neue Schönheit‹ gewissermaßen zu ›ergehen‹. Warum können überkommene Nutzungsformen als ästhetisch wahrgenommen werden, während zeitgenössische Nutzungsformen als unästhetisch abgelehnt werden? Liegt das an einer wesentlichen Trägheit und Nachträglichkeit von Ästhetik? Muss die Ästhetik immer erst Bilder konstruieren, als Landschaft synthetisieren und in Umlauf bringen, damit Landschaft überhaupt sichtbar wird? Oder gibt es hier eine Avantgarde und eine Nachhut, die dann in ihrer Masse nie auf der Höhe der Zeit ist? Offensichtlich hat sich hier etwas grundsätzlich verändert.

»Charakteristische Landschaftsbilder, wie wir sie von historischen Kulturlandschaften kennen, sind weder unter den Rahmenbedingungen einer intensivierten Biomasseproduktion noch unter Verwilderungsszenarien vorstellbar, um nur zwei mögliche Szenarien aus der aktuellen Diskussion über die Zukunft unserer Landschaften aufzugreifen. (…) Die übergeordneten kulturell geprägten großen Erzählungen der alten Kulturlandschaften oder der europäischen Stadt werden zunehmend verloren gehen, weil sie keinen nachvollziehbaren Bezug mehr zur Lebenswirklichkeit haben. Diese wird sehr viel mehr bestimmt von dem Patchwork der individuellen Identitäten. Was in der Beschleunigungsgesellschaft an Landschaft gebraucht wird, ist vielmehr eine Kulisse als eine Identitätsbasis. Sie muss Erlebnisreichtum bieten und setzt Erfahrungen nicht voraus.«[7]

Das bedeutet, dass die heutigen Querfeldeingänger im Sinne Caspar David Friedrichs und des obigen Zitats von Thoreau zwar durchaus noch eigene Erfahrungen machen können, diese aber nicht mehr den Weg in die Allgemeingültigkeit finden. Denn die überwiegende Anzahl der Menschen begnügt sich lieber – metaphorisch gesprochen – mit bestehenden Straßen und mit dem »Erlebnis«, also dem Konsum aus dem Fundus schon bestehender Kulissen und Klischees.

»Ich bin generell pessimistisch, sowohl was die Überforderung des Spaziergängers als auch was die Entwicklung der Landschaft als solche angeht«[8], hat Lucius Burckhardt in einem Interview einmal gesagt. Muss man sich von Landschaft als Bild verabschieden, weil die Heterogenität einfach nicht mehr zu einem konsistenten Bild geschweige denn zu gesellschaftlich maßgeblichen Bildern synthetisiert werden kann?

Landschaftszerstörung wurde schon im 19. Jahrhundert verstärkt kritisiert, im 20. Jahrhundert gibt es immer wieder Zeugnisse von geradezu ästhetischer Resignation. In der Erzählung Ungenach lässt Thomas Bernhard seine Figur Moro sagen: »Wohin schauen, um nicht verzweifeln zu müssen?«[9] Eine Strategie, der Verzweiflung zu entgehen, wäre es, die Sichtweise zu reflektieren und zu verändern, wie Wolfgang Kil ausführt, wenn nicht geradezu fordert.

»Schon immer hat sich im Erscheinungsbild von Städten und Landschaften der ökonomische wie soziale Zustand einer Gesellschaft verlässlich gespiegelt. Heute kündigen nutzlos gewordene Altindustrieflächen, Wohnungsleerstand und Landstriche, die ohne Subventionen aus aller Bewirtschaftung fallen würden, einen historisch allfälligen Paradigmenwechsel an: Traditionelle Sehweisen und Interpretationen, die althergebrachten Methoden und Erwartungen helfen nicht mehr weiter. Zumindest in einigen europäischen Kernregionen ist es an der Zeit, das Denken von der ständigen Expansion auf den geordneten Rückzug umzustellen.«[10]

»Mit dem Abschied von der Illusion grenzenlosen Wachstums müssen sich die verbreiteten Ideale urbaner Schönheit wandeln – sonst werden wir an den Bildern der Schrumpfung verzweifeln. Anstatt Chaos und Wildwuchs als ästhetisches Desaster zu beklagen, sind die Sondeure einer neuen Stadterfahrung entschlossen, den Kontrollverlust als Gewinn zu verbuchen: Erst wenn die übersichtlich klare Zuordnung von Räumen und Funktionen endet – so ihr neues Credo –, wird Stadt spannend, lebendig, also wirklich.«[11]

Kil hat diese Überlegungen zwar im Zusammenhang mit Stadt gemacht. Bei der heutigen diskursiven Austauschbarkeit von Stadt und Land gilt dies sinngemäß jedoch durchaus für beide. Es geht auch ihm hier um ›neue Erfahrung‹. Es geht nicht um ›neue Schönheit‹ anstelle obsoleter ästhetischer Ideale, sondern um Wirklichkeit und Lebendigkeit. Auch Burckhardts Strategie, Orten über Aktionen wieder Sichtbarkeit und Bedeutung zukommen zu lassen, zielte in diese Richtung, ohne eine neue Ästhetisierung im Sinne von länger gültiger Bildhaftigkeit zur Folge zu haben. Die Transformationsprozesse vollziehen sich dafür heute einfach zu schnell. Generell ließe sich fragen, ob Bilder allein hier überhaupt noch eine angemessene Repräsentation leisten können. Gerade ihre inflationäre Verbreitung lässt daran zweifeln. Wenn die Wege der Querfeldeingänger und Sondeure nicht mehr zu breiten Straßen der Wahrnehmung und zu Bildern werden, dann geht es vielleicht darum, ihre Spuren und Erfahrungen anders aufzuzeichnen und zu kommunizieren.

Die Burckhardt’sche Frage muss wohl bald in die Vergangenheit gesetzt werden und kann nur noch lauten: »Warum war Landschaft schön?« Auch Reinhard Piechocki schreibt zum Abschluss seines Buches: »Die Sicherung von bedrohter Natur in Form von Schutzgebieten ist letztlich eine Form der Trauerarbeit der Naturschützer angesichts des zunehmenden Verlustes von Natur und Landschaft.«[12]

Im Rückblick auf die Eingangszitate von Thoreau zu Gehern/Nichtgehern sowie von Bernhard zu Spaziergängern/Nichtspaziergängern versteht sich folgende Trennung und Entscheidung:

»Die Konfliktlinie läuft nicht zwischen zwei Abstrakta (Mensch versus Natur), sondern zwischen Menschengruppen mit ihren unterschiedlichen Interessen, Wertvorstellungen und Ansprüchen. Lebensweisen zu überdenken und zu ändern sowie Wirtschaftsformen kritisch zu hinterfragen und umzuwandeln ist kein naturwissenschaftlich lösbares Problem, sondern eine umfassende Kulturaufgabe.«[13]

 


[1] Henry David Thoreau, »Vom Gehen« (1862), in: ders., Leben ohne Grundsätze. Ausgewählte Essays, Leipzig und Weimar 1986, S. 192.
[2] Thomas Bernhard, Ungenach, Frankfurt am Main 1969, S. 26.
[3] Reinhard Piechocki, Landschaft, Heimat, Wildnis. Schutz der Natur – aber welcher und warum?, München 2010, S. 105.
[4] Vgl. ebd., S. 142
[5] Lucius Burckhardt, Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, hg. von Markus Ritter und Martin Schmitz, Berlin 2008, S. 294.
[6] Jörg Dettmar, »Urbanisierte Landschaft – Kulturlandschaft der beschleunigten Gesellschaft«, in: Brita Reimers (Hg.), Gärten und Politik. Vom Kultivieren der Erde, München 2010, S. 187.
[7] Ebd., S. 187.
[8] Burckhardt, a.a.O., S. 316.
[9] Bernhard, a.a.O., S. 24.
[10] Wolfgang Kil, »Stadtpark – Brache – Neue Wildnis? Defensive Strategien für einen Überfluss von Raum«, in: Brita Reimers (Hg.), Gärten und Politik, Vom Kultivieren der Erde, München 2010, S. 22.
[11] Ebd., S. 27f.
[12] Piechocki, a.a.O., S. 238.
[13] Ebd., S. 233.

 

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