Kreuzberger Salon 21 | Fünf Sinne: Geschmack

Fünf Sinne: Geschmack

»Welche glückliche Revolution auf allen Herden seit der französischen Revolution! Ihr haben wir zu verdanken, daß so manche Hausmannskost verschwunden ist … die fetten Dampfnudeln, die grauen Erbsen mit Speck und andere für gebildete Magen unüberwindliche Gerichte, …. Gut für Matrosen- und Kamelmagen und für den, der ackernd und pflügend … im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen müßte. Ihr seid, sage ich, verwiesen, … denn die Fortschritte der Wissenschaften und der Kochkunst laufen gleich zwei Parallellinien nebeneinander, und sie laufen schnell.«
Eugen von Vaerst, Gastrosophie oder Lehre von den Freuden der Tafel[1]

Mit der von Westeuropa ausgehenden Auflösung der feudalen Agrarregime und der Durchsetzung einer bürgerlich-liberalen Industriegesellschaft hat sich seit dem 19. Jahrhundert eine bis dahin ungekannte Transformation vollzogen. Sie wurde nicht selten als Beschleunigung beschrieben. Arbeit, Geld und Boden wurden mobilisiert und zu auf dem Markt handelbaren Gütern. Die Selbsteinschätzung der Moderne als »Zeitalter der Vernunft« aber blieb nicht unwidersprochen. Ebenso wurde der liberale Glaube an die Selbstregelungskräfte des freien Marktes zur Debatte gestellt. Fraglos hat die Moderne ein rapides »Wachstum der Kollektive«[2] (Bruno Latour) gefördert: Politisch wurden aus Kleinstaaten Nationalstaaten und größere Staatenverbände, Transportrevolution und Standardisierung erweiterten die Handels- und Wirtschaftsräume. Dieser Prozess dauert nach wie vor an.

Parallel zur Entstehung größerer Einheiten vollzog sich eine zunehmende Parzellierung. Mit einer »Großen Trennung«[3] hatte die Aufklärung Gesellschaft und Natur zu separieren geglaubt und weitere Unterteilungen vorgenommen. Arbeit und Wissen spezialisierten sich immer weiter. Politik und Kunst wurden durch die »Aufteilung des Sinnlichen«[4] (Jacques Rancière) getrennt. Die Ästhetik wiederum systematisierte die Künste und hierarchisierte dabei die Sinne. Sehen und Hören wurden idealistisch aufgewertet, die übrigen Sinne ausgeschlossen. Dem Geschmack blieben – für die Masse – Ernährung und – für die Distinguierten – Genuss.

Seit einiger Zeit entsteht in den Bereichen Ernährung, Lebensmittel, Landwirtschaft, Urban Gardening eine Vielzahl von Initiativen, die sich keineswegs nur mit den ihnen zugeteilten Feldern begnügen wollen. Ihnen soll ihr gemeinsamer Grund zurückgegeben werden. Silo-Mentalität ist, um ein Bild aus der Landwirtschaft zu bemühen, gilt es zu vermeiden. Heute geht es darum, sich untereinander zu vernetzen. Gleichzeitig soll auch der Bereich Politik wieder besetzt werden.

Es scheint von daher nicht uninteressant, einen Blick auf Vorläufer des Denkens über Ernährung zu werfen. Dazu gehören neben Eugen von Vaerst (Gastrosophie oder Lehre von den Freuden der Tafel, 1851) und Gustav Blumröder (Vorlesungen über Esskunst, 1838) auch Karl Friedrich von Rumohr (Geist der Kochkunst, 1822), der sich als Erster im Detail dafür aussprach, die »ganze Verkettung zu überdenken«: Essen, Kochen, Tafelsitten, Landwirtschaft, Transport, Handel, Volkswirtschaft usw. Diese Autoren haben aufeinander Bezug genommen und sind ideengeschichtlich somit durchaus Begründer des heutigen Diskurses.

 

Literatur
• Antonius Anthus (Pseudonym von Gustav Blumröder), Vorlesungen über Esskunst (1838), Bern Stuttgart Wien 1962 (Digitalisierte Fassung der Ausgabe von 1838)
• Karl Friedrich von Rumohr, Geist der Kochkunst (1822), Frankfurt am Main 1978 (Download der Ausgabe von 1822)
• Eugen von Vaerst, Gastrosophie oder Lehre von den Freuden der Tafel (1851), München 1975
• Harald Lemke, Politik des Essens. Wovon die Welt von morgen lebt, Bielefeld 2012


[1] Eugen von Vaerst, Gastrosophie oder Lehre von den Freuden der Tafel (1851), München 1975, Erster Band, S. 289f.
[2] Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 2008, S. 187.
[3] Ebd., S. 20 (im Original »Grand Partage«).
[4] Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008 (Le Partage du sensible. Esthétique et politique, Paris 2000).

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