Kreuzberger Salon 1 | Kulturlandschaft/Energielandschaft

Kulturlandschaft/Energielandschaft

»Hundert Bauern lebten einst dort und gingen hinter hundert Pferden, wo heute zuweilen ein einzelner Traktor seine Bahnen zieht, sie sind, wie man in den Zeitungen liest, zu Rohstoffproduzenten geworden, zu Produzenten eines einzigen Rohstoffs in der Regel, der außerdem noch im Überfluß vorhanden ist. Monokultur und Ökonomie haben gemeinsam mit den letzten beiden Kriegen dafür gesorgt, daß dieses Landleben und diese Landschaft verschwanden. (…) Auf seiner Fahrt durch die grüne Wüste hat der Traktorfahrer nun eine Arbeit und eine Idee, allein in der Monokultur. (…). Monokultur. Nichts Neues unter der einzigen Sonne. Die endlosen homogenen Reihen verdrängen oder löschen das Moiré, das Isotope schließt das Unerwartete aus; der Agronom vertreibt den Bauern; einige wenige Gesetze treten an die Stelle dieser mit feinen Strichen gemalten, pointillistischen Permutationen. Statt der Kultur herrschen Chemie und Verwaltung, Profit und Schriften. Ein rationales oder abstraktes Panorama vertreibt tausend Landschaften mit ihren kombinatorischen Spektren.«[1]

Dies sind einige Sätze aus Michel Serres’ Buch Die fünf Sinne. Serres (*1930), der 2010 im Berliner Haus der Kulturen der Welt mit der zweitägigen Veranstaltung »Irrfahrten und Schiffbrüche« einen grandiosen Auftritt hatte, hat bereits 1985 darüber reflektiert, dass die traditionelle Kulturlandschaft, aus der er stammt, »lange zu ihrer Herausbildung gebraucht hat und rasch zerstört ist«.[2] Obwohl die Industriegesellschaft schon viel älter ist, ist es eine Erfahrung des 20. Jahrhunderts, dass die Agrikultur ihre Autonomie verloren hat und als Agroindustrie zu einem Teilbereich der Industrie geworden ist. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand das Pferd in Deutschland aus der Landwirtschaft, und mit fossilem Treibstoff angetriebene Aggregate sorgten für eine bis dahin unbekannte Beschleunigung. Die Agrikulturlandschaft, die unsere Erinnerung prägt, ist nach und nach mit den Veränderungen der Bedingungen bäuerlichen Lebens verschwunden, die sie hervorgebracht hat. Klaus Overmeyer, Rupert Schelle und Tina Veihelmann benennen in ihrem Aufsatz »Was blüht unseren Landschaften?«, der im Katalog zur IBA 2010 veröffentlicht worden ist, die Geschwindigkeit des Wandels in den letzten 50 Jahren mit »fast forward«[3].

Bereits Ende der 1990er-Jahre stellte Rolf Peter Sieferle fest:

»In den letzten Jahren war in dramatischer Beschleunigung zu beobachten, wie sich in der ehemaligen DDR der Übergang von der produktionsorientiert-segmentierten zur massenkonsum-orientiert-totalen Landschaft vollzog. Die eine Seite dieses Prozesses bildete die Auflösung der Verschmutzungsinseln durch De-Industrialisierung und Sanierung. Die veralteten Fabriken wurden stillgelegt. Man ging an die Re-Kultivierung der verwüsteten Trümmerlandschaften. Der industrielle Restbestand mußte sich den scharfen Umweltstandards der Bundesrepublik anpassen. Die Kehrseite dieses Prozesses aber war die rapide Vernichtung der überkommenen Reste der Kulturlandschaft, die von der einheimischen Bevölkerung selbst vollzogen wurde. Hier konnte man beobachten, wie eine Verschandelungsorgie durch das Land ging: Die Alleen wurden gefällt; die Häuser wurden mit Baumarktplunder verschönert; die Innenstädte wurden marktgerecht herausgeputzt; die verschlafenen ländlichen Räume wurden touristisch erschlossen; die Lärmglocke der Automobile legte sich flächendeckend über den Raum.«[4]

Aktuelle TV-Sendung: »Ozon« auf rbb, 13.09.2010, »Energiesteppe oder Heimat? Brandenburgs Landschaften«[5]

 


[1] Michel Serres, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt am Main 1998, S. 340ff.
[2] Ebd., S. 332f.
[3] Klaus Overmeyer; Rupert Schelle; Tina Veihelmann, »Was blüht unseren Landschaften? Zum Beispiel Bitterfeld-Wolfen im Jahr 2050«, in: Internationale Bauausstellung – Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010. Weniger ist Zukunft. 19 Städte – 19 Themen (Katalog), hg. vom Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt, Berlin 2010, S. 843.
[4] Rolf Peter Sieferle, Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt, München 1997, S. 213.
[5] http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/3517136?documentId=5381970

 

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