… eigentlich nichts Überraschendes

… eigentlich nichts Überraschendes

»Welch ungewöhnliche Eroberer sind auch jene unendlich kleinen Keime, die ihrem Reich eine Masse unterwerfen können, welche ihrer Kleinheit millionenfach überlegen ist!«
Gabriel Tarde, Monadologie und Soziologie, 1893 [1]

Mit Critical Zones (ZKM, Karlsruhe) und Down to Earth (Gropius Bau, Berlin) waren 2020 zwei große Ausstellungen zu sehen, die auf das Wirken Bruno Latours zurückgehen. Die Kritische Zone ist jener im Vergleich zum ganzen Globus nur sehr schmale Bereich zwischen Himmel und Erde, in dem das Leben stattfindet. Critical Zones wie Down to Earth beziehen sich auf Latours Plädoyer für eine neue Erdverbundenheit, der er in Face à Gaia (dt. Kampf um Gaia, 2017) und Où attérir (Wo landen? dt. Das terrestrische Manifest, 2018) Ausdruck verliehen hat. Die Ausstellungen nur unter Pandemiebedingungen rezipieren zu können, hat sicherlich dazu beigetragen, ein unmittelbareres Bewusstsein für die Gefahren und Gefährdungen der Kritischen Zone zu bekommen. Und einzelne Positionen, vorneweg etwa die Arbeiten von Lynn Margulis und James Lovelock über die Rolle von Mikroorganismen für das Leben auf der Erde, in ihrer Bedeutung für unsere heutige Weltsicht klarer hervortreten zu lassen. Die Pandemie ist vor diesem Hintergrund nicht als Einbruch des Virus in eine an sich geschlossene soziale menschliche Welt zu verstehen, sondern als ein Phänomen des Anthropozäns.

Etwas länger zurück liegt Latours Beschäftigung mit dem Soziologen Gabriel Tarde (1843–1904), dem er mehrere Texte gewidmet hat. Neben Anknüpfungspunkten der eigenen Ideen an Tarde als eine Art Vorläufer blitzt vereinzelt auch Erstaunen über Tardes damalige Positionen durch. So etwa 2008, wenn bei der Lektüre von Tardes Psychologie économique der ein oder andere über einhundert Jahre alte Gedanke Tardes kommentiert wird mit Ausrufen wie: »Wenn man das liest, fragt man sich, was wir das ganze 20. Jahrhundert hindurch gemacht haben …« oder »Warum haben wir ein Jahrhundert verloren?«[2] Tardes Denken verblüfft aus heutiger Sicht immer wieder dadurch, dass er wissenschaftliche Einteilungen und Trennungen, wie sie sich gegenwärtig zunehmend auflösen, zur Zeit ihrer Etablierung erst gar nicht betrieben oder mitvollzogen hat. In der Folge ist er dadurch lange ins Abseits und in  Vergessenheit geraten, und hier setzen Latour und seine Mitautoren bei ihrer Wiederentdeckung an.

Boden z. B. ist für Tarde weder eine Fläche aus der Kategorie des Eigentumrechts noch landwirtschaftlich betrachtet ein einfaches Substrat, sondern ein komplexes »Ensemble« im Spannungsfeld von Physik, Chemie, Biologie, Menschen, Tieren, Kulturtechniken. Das liest sich in seiner etwas eigentümlichen Diktion dann so: »Was ist denn der Boden, wenn nicht das Ensemble der physisch-chemischen und lebendigen Kräfte, die aufeinander einwirken, mittels einander wirken und von denen die einen – Wärme, Licht, Elektrizität, chemische Substanzen und Kombinationen – in strahlenden Wiederholungen ätherartiger oder molekularer Schwingungen bestehen, die anderen – Kulturpflanzen und domestizierte Tiere – in nicht weniger strahlenden und expansiven Wiederholungen von Generationen, die demselben organischen Typ entsprechen oder einer neuen Rasse, die durch die Kunst der Gärtner und Züchter geschaffen worden ist?«[3] Ergänzen muss man aus heutiger Sicht noch die Rolle der Organismen und Mikroorganismen des Bodenlebens. Und kann daran erinnern, dass die Geschichte der Domestizierung mit der Geschichte der zoonotischen Krankheiten der Menschheit einhergeht.

Der oben auf dieser Seite als Motto zitierte Satz stammt aus Tardes 1893 publiziertem Monadologie und Soziologie. Darin entwirft er die Idee einer Soziologie, die sich allen Arten von Beziehungen widmet. Nicht nur jenen der Menschen untereinander. Sondern von einer Soziologie der Mikroorganismen bis hin zu jenen von Sternenkonstellationen reicht. Die Menschen werden im selben Zug aus ihrer anthropozentrischen Selbstgefälligkeit verstoßen und müssen mit einer neuen Bescheidenheit vorlieb nehmen: »Wir sollten nicht aus den Augen verlieren, daß die Zellgesellschaften tausend Mal älter sind als die menschlichen Gesellschaften und die Inferiorität der Letzteren eigentlich nichts Überraschendes birgt.«[4]

Dass er im Buch nur von Einzellern, Zellen, Zellgesellschaften und Mikroorganismen spricht, nicht aber von Viren, ist einfach zu erklären. Erst im Jahr bevor Tarde seinen Text in der Revue Internationale de Sociologie veröffentlichte, hatte Dmitri Iwanowski in Russland erstmals den Ausdruck Virus im Zusammenhang mit der Erforschung der Mosaikkrankheit der Tabakpflanze verwendet. Seine Ergebnisse allerdings, wie es heißt, in wenig wahrgenommenen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht. Adolf Mayer, ein anderer Pionier der Virologie, hatte beim Auslöser dieser Krankheit 1886 noch von einem Bakterium gesprochen. Beide schlossen auf einen Erreger, der sich nicht im Lichtmikroskop sehen ließ und die feinsten Filter passierte. Tarde hätte vermutlich auch die Viren in seine Überlegungen eingeschlossen, denn, wie es bei ihm heißt: »Alles entsteht im unendlich Kleinen und kehrt dorthin zurück.«[5] Und wo die Mikroskope seinerzeit noch nicht hinreichen, in die »ultra-mikroskopischen Tiefen«,[6] dringt er mit dem Intellekt vor.

Und so war es einleuchtend, dass der Übersetzer und Soziologe Michael Schillmeyer im Nachwort der deutschen Ausgabe von Monadologie und Soziologie 2009 auf die Bedrohung durch Viren eingeht, um Tardes Gedankengebäude zu exemplifizieren. Und sich dem ersten SARS-Ausbruch von 2003 widmet. Diese Epidemie, die die Gefahr einer Pandemie mit sich brachte, habe durch ihre Auswirkungen, so resümiert Schillmeyer, die »Normativität soziokultureller, politischer, ökonomischer, wissenschaftlicher, geographischer Grenzen und Grenzziehungen sichtbar und fragwürdig werden lassen«[7]. All diese menschlich konzipierten Bereiche wurden durch die Macht von SARS und seine »Verknüpfung von menschlichen/nichtmenschlichen Gesamtheiten«[8] erschüttert. In den oben zitierten Worten Tardes also »eigentlich nichts Überraschendes«. Wenn es für ihn eine Fiktion gab, dann war es die Idee einer rein menschlichen Gesellschaft, wie er sie in seiner Erzählung Fragment einer Geschichte der Zukunft (1896) auf die Spitze trieb.

Beim ersten SARS-Ausbruch zu Beginn unseres Jahrhunderts war es zwar gelungen, die Epidemie einzudämmen, »vor allem durch intensive transnationale wissenschaftliche Zusammenarbeit und den gesteigerten – oftmals übersteigerten – Einsatz von Kontroll-, Überwachungs- und Isolationstechnologien«.[9] Dennoch war dieser für Pandemiolog*innen, Virolog*innen und Umwelthistoriker*innen, denen die Geschichte der Zoonosen bekannt war, eine Blaupause für Kommendes.

»In den kommenden Jahren wird die Bedrohung durch Pandemien wachsen. Neue Infektionserreger werden sich ausbreiten und neue Krankheiten auslösen. Neue Pandemien werden ausbrechen, wenn wir tiefer in die Regenwälder vordringen und Erreger aufstöbern, die zuvor keinen Zugang zu den internationalen Transportnetzen hatten. Diese Erreger werden sich ausbreiten, weil sich dichtbevölkerte Zentren, lokale kulinarische Gebräuche und der Tierhandel zunehmend überschneiden«,[10] schrieb Nathan Wolfe in Virus. Die Wiederkehr der Seuchen bereits vor zehn Jahren. Wolfes daran anschließendes Plädoyer für ein Monitoring zur schnelleren Entdeckung und Eindämmung von Ausbrüchen ist der pragmatische Versuch, gegen Folgen vorzugehen, auf deren Ursachen sein Fachgebiet keinen Einfluss hat. Ein anderes Wirtschaften liegt nicht im Bereich der Wirkungsmacht von Virolog*innen.

Und wenn, wie in Joseph Conrads Herz der Finsternis (1902), der »Totentanz im Namen des Welthandels wie in einer gut geheizten Katakombe fröhlich weitergeht«,[11] dann muss man sich vermutlich der hoffnungsvollen Befürchtung des Historikers Dipesh Chakrabarty zur Ära der Pandemien als einem Phänomen des Anthropozäns anschließen: »Humans may win their battle against the virus—I really hope they do—but the virus has already won the war.«[12] Die Pandemie ist vorbei, es lebe die Pandemie.

 

 


[1] Gabriel Tarde, Monadologie und Soziologie, mit einem Vorwort von Bruno Latour, Frankfurt am Main 2015, S. 103.
[2] Bruno Latour, Vincent Lépinay, Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen. Eine Einführung in die ökonomische Anthropologie Gabriel Tardes, Frankfurt am Main 2012, S. 110 und 40.
[3] Gabriel Tarde, Psychologie économique, zit. nach Latour/Lépinay, ebd., S. 68 f.
[4] Tarde 2015 (wie Anm. 1), S. 57.
[5] Ebd., S. 25.
[6] Ebd., S. 42.
[7] Michael Schillmeier, »Jenseits der Kritik des Sozialen – Gabriel Tardes Neo-Monadologie«, in: ebd., S. 144.
[8] Schillmeier, ebd.
[9] Ebd., S. 145.
[10] Nathan Wolfe, Virus. Die Wiederkehr der Seuchen (im Original: The Viral Storm. The Dawn of a New Pandemic Age, New York 2011), Hamburg 2012, S. 198.
[11] Joseph Conrad, Herz der Finsternis, Zürich 2007, S. 27.
[12] Dipesh Chakrabarty, »An Era of Pandemics? What is Global and What is Planetary About COVID-19«, Critical Inquiry, October 16, 2020, https://critinq.wordpress.com/2020/10/16/an-era-of-pandemics-what-is-global-and-what-is-planetary-about-covid-19/ (Zugriff: 14.4.2021).