Die Sinne in den Küchen

Die Sinne in den Küchen

»Das Auge ist ein abstraktes Sinnesorgan; mit dem Gegenstand, den es sieht, kommt es nie unmittelbar in Berührung und kann mit ihm nicht zusammenwachsen. Das Ohr lässt die Dinge ein wenig näher heran. Die Hand ergreift sie. Die Nase fängt den Brodem der Dinge ein. Der Mund nimmt auf, wonach ihn verlangt. Und ich weiß erst dann von etwas, was es ist, wenn ich es geschmeckt habe.«[1]
Béla Hamvas, Die Philosophie des Weins

Wenn man sich eingehender mit Essen und Kochen beschäftigt, so ist es gut, die zwei für diese Bereiche wichtigen Kreuze zu berücksichtigen. Das erste ist das Kreuz der fünf Sinne. Natürlich könnte man einwenden, dass es mehr als nur fünf Sinne gibt. Doch zu der Zeit, als die ersten Autoren sich ernsthaft mit Essen und Kochen zu beschäftigen begannen, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, spielten nur fünf Sinne eine Rolle. Man hat also tatsächlich ein großes Thema lange vernachlässigt, wenn man bedenkt, dass die Kochkunst die älteste Kunstform der Menschheit ist, wie Jean Anthèlme Brillat-Savarin in seiner Physiologie des Geschmacks (1825) schrieb. Die wichtigen Werke neben Brillat-Savarin sind Karl Friedrich Freiherr von Rumohrs Geist der Kochkunst (1822), Gustav P. Blumröders Des Antonius Anthus Vorlesungen über die Eßkunst (1838) und Baron Eugen von Vaersts Gastrosophie oder Lehre von den Freuden der Tafel (1851). Im 20. Jahrhundert meldet sich dann aus Frankreich Michel Serres mit Die Fünf Sinne (1985). Und die fünf Sinne sind Gesicht, Gehör, Gefühl, Geruch, Geschmack, in dieser Reihenfolge, und vor allem: von oben nach unten. Das ist zunächst einmal die Vertikale des Kreuzes, das also nicht die Form eines x hat, sondern wie ein Schweizer Kreuz ausgerichtet ist. Warum das so ist, liegt keineswegs an den genannten Autoren. Ganz im Gegenteil. Sie haben diese Situation schon so vorgefunden. Und dass man sich so spät mit den Themen Essen und Kochen beschäftigt hat, liegt auch in dieser idealistischen Rangordnung begründet. Hegels Studenten etwa haben das in dessen Vorlesungen über die Ästhetik fleißig mitgeschrieben. Auge und Ohr wurden als eher theoretische, dem Geist und der Immaterialität näherstehende Sinne betrachtet; die anderen, die mit der Materialität und Stofflichkeit des Daseins zu tun hatten, als niedere Sinne.[2]

So zu denken hat wirklich weitreichende Konsequenzen gehabt, etwa für das, was lange Zeit überhaupt nur als Kunst akzeptiert wurde. Eigenartigerweise sind es auch die ersten beiden Sinne, Gesicht und Gehör, welche die Digitalisierung geschafft haben, die heute also weitgehend elektronisch abgespeist werden. Ebenso kann man sich, wenn man dem entgehen will, einfach den anderen Sinnen widmen. Kochen, Garten und Leibesübungen florieren genau deswegen wieder.

Aber zurück zur Sache, ins 19. Jahrhundert. Was machen also der Freiherr und Kunsthistoriker von Rumohr, der Offizier und Baron von Vaerst und der Mediziner und spätere Parlamentarier Blumröder, wenn sie ihre Liebe auf ein bislang als niedrig eingestuftes Sujet verwenden und sich mit ihren Büchern zwischen die Stühle setzen? Weder sind sie professionelle, akademische Denker, welche ja eher, nicht nur in Bezug auf das Kochen, Undenker sind. Noch sind sie professionelle Köche und Kochbuchschreiber, deren Vernünftigkeit sich eigentlich nur in ihrer Praxis abzeichnet und selten richtig brühwürfelartig kondensiert dargestellt wird. Tatsächlich ging es diesen Autoren nicht darum, dem Geschmack und Geruch auf der ästhetischen Sprossenleiter nur ein bisschen weiter nach oben zu verhelfen. Auch wählten sie nicht das Vorgehen, diese Vertikale der Sinne einfach umzudrehen, um 180 Grad, so wie Marx seinen Hegel einfach vom Kopf auf die Füße stellte. Sie gingen da viel umsichtiger vor. Sie wählten den Mittelpunkt auf dieser Linie, also in Höhe des Gefühls, und drehten sie in diesem Punkt nur um 90 Grad. Die Vertikale kommt in die Horizontale, und schon ist das Kreuz der Sinne sichtbar. Aber was bedeutet das konkret? Nun, für das Gefühl hat sich nicht viel geändert. Es bleibt auf derselben Höhe, findet sich jetzt aber mit allen anderen nicht mehr über- oder untergeordnet, sondern in Nachbarschaft (»in Augenhöhe« würde einem die Sprache, die ihrerseits wie die ganze Sprache der Erkenntnis vom Okularzentrismus stark unterwandert ist, hier gerne anbieten). Es muss sich nur ein bisschen umorientieren. Die Gastrosophen banden die Sinne mit ihren aufeinanderfolgenden Funktionen wieder an den Leib an, in einer flachen Hierarchie: Sehen, Anfassen, Riechen, Schmecken – dann Schlucken. Es geht nun nicht mehr darum, nur zu schauen und zu hören, und wenn das Gehör den Magen knurren hört, diesen schnell ruhigzustellen. Sondern darum, dass die verschiedenen Sinne diesem jetzt eher zuarbeiten, wobei dem Geschmack eine ganz andere Bedeutung und Verantwortung zukommt. Dass Béla Hamvas das 1945 in Ungarn in seiner Philosophie des Weins so gut formulieren kann, liegt daran, dass er die deutsche Romantik gut studiert hat. Was ihm aber auch zum Verhängnis wurde. Nachdem sein bisheriges Werk 1945 bei der Bombardierung Budapests verbrannte, erwirkte der Marxist Georg Lukács 1948 sein Publikationsverbot (Pensionierung Stufe B).

So viel zum Kreuz der Sinne, nun zum zweiten Kreuz. Dem Küchenkreuz beziehungsweise Kreuz der Küchen. Plural, nicht Singular. Kreuz der Sinne, Kreuz der Küchen. Es gibt nicht nur eine Küche, aber auch nicht fünf, wie bei den Sinnen. Sondern nur zwei. Das Kreuz der Küchen ist ähnlich konstruiert, funktioniert aber anders und ist mit großem Gewinn vielseitig einsetzbar, jeden Tag. TV-Kochspektakel, »die unter uns überhandnehmenden Kochbücher«[3], so Rumohr 1822, Internet und Zeitschriften voller Rezepte, das alles ist kein Problem mehr. Man zieht nur das Kreuz hervor und es kann keine »Geschmacksverwirrung«[4] (Rumohr) mehr eintreten. Aber es ist kein Kruzifix. Es funktioniert eher technisch, ein bisschen wie ein Jakobsstab, und kann zur Positionsbestimmung und Orientierung verwendet werden. Während man das erste Kreuz nur einmal richtig verstanden haben muss und dann ist es gut. Oder mal zur Erinnerung hervorzieht. Das Kreuz der Küchen besteht gleichfalls aus zwei Achsen: vertikale Küche und horizontale Küche. Die vertikale Küche arbeitet mit an Ort und Stelle produzierten Lebensmitteln, die aus einem gewissen Umkreis im Rahmen der vier Jahreszeiten hervorgehen. Sie arbeitet allenfalls mit zeitlichen Verschiebungen (Einmachen, Trocknen, Einlegen, Aufbewahren etc.). Die horizontale Küche betrifft alle gehandelten Produkte, die von woanders herkommen. Sie ist also die vertikale Küche von anderswo, so wie die vertikale Küche durch Transport an einen anderen Ort dort zur horizontalen wird. Da sie als Kreuz verbunden sind, ist die Küche an einem bestimmten Ort in der Regel immer von beiden Küchen bestimmt. Rumohr etwa ist ein Vertreter, genauer gesagt Verfechter der vertikalen Küche, der für die Zubereitung regionaler, saisonaler Speisen eintritt, und der es ablehnt, »aus dem Schmutz eines Italienerkellers versalzene und übersäuerte Bissen hervorzuholen«[5]. Man kann die Vertikale an sich übrigens beliebig verlängern. Nach unten und nach oben. Unten ist natürlich der Boden, die Erde, und Blumröder wünscht jedem Esskünstler folgerichtig einen eigenen Garten oder ein eigenes Stück Land. Hamvas praktiziert das ebenfalls (»… wie ich im regenreichen Mai im Morast watete und keuchend das queckendurchsetzte Erdreich umgrub und die Disteln ausrottete …«[6]). Oben sind Sonne und Mond, der Regen und für einige auch Gott (Hamvas). Eugen von Vaerst, weitgereister und weltmännischer als Rumohr, ist Befürworter der horizontalen Küche und stellt unter anderem ein ABC von Apfel bis Zucker für Lebensmittel dieser Art dar. Der reinen vertikalen Küche an ihrem Nullpunkt sozusagen, wenn man das Kreuz als Koordinatensystem nimmt, misstraut er ebenso wie einer Rückkehr zu den Ursprüngen. Kennt aber auch den Vorwurf, »dass wir alle Weltteile ausplündern, um unsere Tafel zu bereichern«[7]. Erwähnt werden muss noch die Bedeutung der vertikalen Küche für den Geschmack. Wenn »Hammelschulter zu Birnen und Bohnen, weil Anfang Oktober«[8] auf dem Tisch standen (Günter Grass, Der Butt), so ist eine solche Mahlzeit eine Abbildung von Jahreszeit und Landschaft für den Mund. Ein Kunstwerk, das verstanden wird, wie ein aus Blumen zusammengesetzter Kopf Arcimboldos vom Auge als Sommer verstanden wird. Der Geschmack schmeckt die Speisen nicht nur, er versteht sie. Durch Handel und horizontale Küche kann der Geschmack somit auch zum Fernsinn werden und ihren Produkten mit Verständnis oder Unverständnis begegnen. Es kann zu einer Krise der Repräsentation kommen. Wenn der Geschmack in einer Küche der »Übermischung«[9] (Rumohr) nichts mehr versteht, dann schmeckt er einfach nur noch irgendetwas. Gegenwärtig hat durch den Wegfall von Grenzen und den Ausbau des Transports das Horizontale das Vertikale stellenweise vollkommen ersetzt, und wie in Andrzej Stasiuks Welt hinter Dukla (1997) haben die Lastwagenkolonnen »das uralte feste Geflecht von menschlicher und tierischer Existenz, saure Milch, Kartoffeln, Eier, Speck«[10] vielerorts zum Verschwinden gebracht. Aber das kann sich auch wieder ändern. Man muss nur einen Spaten in die Hand nehmen.

Axel Schmidt

 

Veröffentlicht in: Du. Das Kulturmagazin, Nr. 787, Thema: »Das Essen«, Juni 2008, S. 48f.


[1] Béla Hamvas, Philosophie des Weins, München 1999, S. 17.
[2] Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 61, in: G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Band 13, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1979.
[3] Karl Friedrich von Rumohr, Geist der Kochkunst (1822), Frankfurt am Main 1978, S. 26.
[4] Ebd., S. 219.
[5] Ebd., S. 37.
[6] Béla Hamvas, Silentium, München 1999, S. 24.
[7] Eugen von Vaerst, Gastrosophie oder Lehre von den Freuden der Tafel (1851), München 1975, Zweiter Band, S. 142.
[8] Günter Grass, Der Butt, München 2007, S. 1.
[9] Rumohr 1978, S. 36.
[10] Andrzej Stasiuk, Die Welt hinter Dukla, Frankfurt am Main 2000, S. 79.