Kreuzberger Salon 90 | Wärmestube

Wärmestube

»Zum Herd ist Gas zugeleitet, aber er kann ebensogut mit Kohle, Holz, Torf und Papier geheizt werden. Dies erscheint überflüssig, wenn alles gut ist. Im Falle einer Energiekrise jedoch erweist es sich als rettend.«
Taras Prochasko, Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen

 

Im Berlin der Nachkriegszeit, so wird erzählt – und vermutlich nicht allein dort –, hat man zu Besuchen, Feiern oder Zusammentreffen in der kalten Jahreszeit nicht nur etwas zu essen oder trinken mitgebracht, sondern auch etwas für die Wärme: ein, zwei Briketts, etwas Brennholz …

Daran anknüpfend richten wir unseren Blick zum dritten Mal in Folge auf das Thema Energie. Wir laden ein, etwas beizutragen, das sich im engeren oder weiteren Sinn mit Wärme und Energie befasst: textlich, theoretisch, künstlerisch, praktisch … thermodynamisch.

Spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie wissen wir wieder, wie sinnvoll es ist, einen gewissen Vorrat an Lebensmitteln und alltäglichen Bedarfsgütern zu Hause zu haben. Nun hat der Krieg in der Ukraine das Augenmerk auf die Grundversorgung gelegt: Wärme, Wasser, Strom … Für den Fall der Fälle werden auch Decken, Winterkleidung, Kerzen, Batterien, Taschenlampen empfohlen.

Als »Unbesiegbarkeitszentren« (»invincibility centers«) bezeichnete der ukrainische Präsident Selenskyj in seiner nächtlichen Ansprache vom 23. November jene für Notfälle eingerichteten Wärmestuben, wo sich die Menschen bei Ausfällen von Strom, Wasser und überlebensnotwendiger Infrastruktur im Winter versorgen können. «Eat or heat» heißt es lapidar bei den englischen Foodbanks, die, ähnlich wie hierzulande die Tafeln, seit dem Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise mehr und mehr Zulauf erfahren.

Was viele vielleicht gerade noch aus Erzählungen von Eltern oder Großeltern kennen, dringt immer weiter ins Bewusstsein vor. Bei steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen dürfte es auch hierzulande schwieriger werden, gewohnte Ansprüche aufrechtzuerhalten wie bisher. Jenseits der Zone, in der man auf immer weiteres Wachstum, Innovationen und Optimierungen vertraute, blieben die Erinnerungen an eine wechselhafte Geschichte auch in der Gegenwart präsent.

Und so fährt Taras Prochasko in seiner Sicht der Dinge fort: »Auf dem Herd, der oben mit Messing beschlagen ist, steht eine uralte Waage, noch voll funktionsfähig, vor allem wenn es um das Abwiegen verschiedener Ingredienzien für Mehlspeisen nach alt-österreichischem Rezept geht (davon gibt es zwei Versionen: die Originalversion mit einem Maximum an hochwertigen Zutaten, und die Krisenversion, bei der alles durch irgendetwas anderes ersetzt wird): Honigkuchen, Kipferl, Topfenkuchen, Zwieback und Mohnstrudel.«

 

Zitate aus: Taras Prochasko, Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen, Frankfurt am Main 2009.

 

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