Kreuzberger Salon 9 | Neo-Ruralismus und Neo-Pastoralismus

Neo-Ruralismus und Neo-Pastoralismus

1. Neo-Ruralismus

»Wenn Sie an einem Sommertag nach Pratz-Balaguer hinaufsteigen, einem sterbenden Dorf in den Pyrenäen, dann werden Sie mit etwas Glück ein wenig Stille finden (…) Der ruhige Ort wird bald verschwunden sein, ein paar Greise geistern wie schwarze Phantome durch die Ruinen, zu schwach, die Steine wieder auf die Mauerkronen zu legen, die Schnee und Wetter hinuntergeworfen haben, sie irren durch die Gassen und suchen nach den johlenden Kindern, die vor siebzig Jahren über den geschwätzigen Dorfplatz liefen. Das Tal schließt den Raum, die Geschichte ist an das Ende ihrer Zeit gelangt. Hoch auf den zerklüfteten Felsen die Reste der alten Burg, der Friedhof zerfällt hinter der zugeschlossenen Kirche. Keine Adligen und keine Krieger mehr, keine Messe und kein Pfarrer, keine Hirten; nur der Nordwind streicht darüber hinweg.« Michel Serres, Die fünf Sinne [1]

Trotz der tendenziellen Anziehungskraft der Stadt gibt es immer wieder Bewegungen zurück aufs Land. So beim Zerfall von Hochkulturen, aber auch in Krisenzeiten. In Frankreich etwa, infolge des Mai 1968, bildeten sich im Zuge einer Zurück-zur-Natur-Bewegung libertäre Kommunen auf dem Land. Es gab einen Exodus von Städtern in die besonders von Landflucht betroffenen Gebiete im Süden Frankreichs. Mitte der 1970er-Jahre, die Kommunen waren teilweise schon wieder im Verfall begriffen, folgten weitere Zuzügler, die, ohne dazu ausgebildet zu sein, auf dem Land von Landwirtschaft oder Handwerk leben wollten. Ende der 1970er begannen die Soziologen Danièle Léger und Bertrand Hervieu sich dieser Bewegung und ihren Utopien zu widmen. Hierfür wählten sie die Bezeichnung »Neo-Rurale«.[2]

Mit geschätzten 8000 bis 10.000 Neo-Ruralen in jenem Jahrzehnt war diese Bewegung aufs Land im Verhältnis zur allgemeinen Landflucht nur eine symbolische Umkehr. Hinzu kam eine Rückwanderungsquote von 80 bis 85 Prozent der Neo-Ruralen. Sozial stammten sie überwiegend aus dem städtischen Kleinbürgertum. Es waren Absolventen von Schulen und Hochschulen, die über ein gewisses »kulturelles Kapital« verfügten, aber unter den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen keine ihrer Ausbildung entsprechende bzw. entsprechend entlohnte Beschäftigung fanden.

Auf dem Land angekommen, trafen sie bei den örtlichen Verwaltungen, die sich Zuzug wünschten, auf Unterstützung. Die eingesessene Bevölkerung aber reagierte mit Fassungslosigkeit bis Aggression. »Und sie wurden, Tag um Tag, mit dem Schrecken des Gemeindelebens konfrontiert, wenn man den ganzen Winter in einem Dorf in den Cevennen eingesperrt und am Ende nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu ernähren, sie lebten den Kontrast zwischen renoviertem Haus und Ruine, zwischen dem Garten, der ein fortwährender Kampf war, und dem immer wiederkehrenden Gestrüpp.«[3]

Die Neo-Ruralen, die die Utopie einer Rückkehr zur Natur, einer Rückkehr zum Boden, einer Rückkehr ins Dorf als idealisierte vorindustrielle Gesellschaftsform mit solidarischer Gemeinschaft suchten, kamen langsam auf dem Boden der Realität an. Und sie entdeckten selbst in den hintersten Winkeln des Landes noch staatliche Verwertungsinteressen, beispielsweise am Holz in den Wäldern der Cevennen.[4]

Zu Beginn der 1980er-Jahre beschäftigten sich Léger und Hervieu mit einer weiteren Welle von Stadtflüchtlingen, die sie als »Kinder der Krise« bezeichneten. Neu in diesem Moment des Neo-Ruralen war das Auftreten eines religiösen Elements durch »neue Mönche«. Neue Orden entstanden, Apokalyptiker, Esoterik und New-Age, die »Gemeinschaften für schwierige Zeiten« bildeten.[5] In den 1990er-Jahren bilanzierten sie schließlich:
»Diejenigen, die geblieben sind, die Schwierigkeiten überwunden haben (materielle Probleme, die Kälte des Winters), sind von der kommunitaristischen Utopie zur Utopie des Paares und zur Utopie des Sich-Einrichtens gelangt, in einer relativ normalen landwirtschaftlichen oder handwerklichen Realität.«[6]

Den wichtigsten Einfluss der Neo-Ruralen auf dem Land sieht Danièle Léger nicht im Versuch, Landwirtschaft entgegen den Erfahrungen der eingesessenen Bauern doch noch wirtschaftlich betreiben zu können, oder durch »Polyaktivität« statt reiner Landwirtschaft eine Lösung für die Zukunft zu suchen. Sondern in der durch sie ausgelösten »symbolischen Destabilisierung«.[7] Gemeint ist damit die Wirkung, die deren Anwesenheit und anderer Lebensstil auf die unhinterfragten Konventionen der ländlichen Bevölkerung hatte.
Schließlich kommt es sogar zu einer unerwarteten Allianz von Neo-Ruralen mit Institutionen des Staates, dem sie eigentlich entfliehen wollten. Das geschieht zu einem Zeitpunkt, als das französische Landwirtschaftsministerium ländliche Entwicklung nicht mehr nur als Produktivitätssteigerung im Agrarsektor begreift, sondern leer gefallene Gebiete zu Naturparks ausbaut und den Tourismus verstärkt zu fördern beginnt. Mit dem hierfür vom Staat beauftragten Personal teilen die Neo-Ruralen das, was in Anlehnung an Bourdieu als »kulturelles Kapital« bezeichnet wird. Und so sind es jetzt überwiegend Neo-Rurale, die in diesem Bereich Funktionen übernehmen, und weniger die Eingesessenen, die ihren Kindern nach wie vor dazu raten, wegzugehen.

2. Neo-Pastoralismus

»Man ist nicht mehr ›alternativ‹. Um mit dem Mainstream zu brechen, geht man nicht mehr aufs Land (…). Diese Abwendung ist ›old school‹ bzw. 1970er- oder 1980er-Stil. Die biografische Zäsur und das Drama des Weggehens als dissidente Praxis einschließlich der vielen damit verbundenen Versagungen sind nicht Teil des politischen Repertoires der Jüngeren. Ohnehin ist die große Geste obsolet geworden.«[8]

Dies ist ein Résumé von Karin Werner zur heutigen Situation. Es gibt keinen Nachschub der jüngeren Generation aus der Stadt für das Land. Stattdessen werden Attribute, die eigentlich mit dem Ländlichen verbunden waren, verstärkt in die Stadt hineingetragen. Landwirtschaft und Gärten kehren in die Stadt zurück.

Veränderungen im Bereich des Ästhetischen widmet sich Kaspars Vanags, lettischer Kunsttheoretiker und Kurator in Riga. Er hielt im Berliner Salon Populaire an einem von ihm und dem Contemporary Art Centre Riga organisierten Abend einen Vortrag zur Kunst im Baltikum, zu Künstlern, die auf dem Land arbeiten: »Das bukolische Genre heute: irgendwo zwischen einem Subtrend des ökologischen Lebensstils und provinzieller Kunst«.[9]

»Die langlebige pastorale Tradition der Fokussierung auf ländliche Themen und ein romantisiertes Landleben der Schäfer und Schäferinnen erlebt ein bemerkenswertes Comeback in der zeitgenössischen Kunst. Das überraschende Comeback ist teilweise durch die Umweltschutzbewegung und das Bewusstsein um den Klimawandel bedingt sowie durch die mittlerweile zum Mainstream gewordene Faszination der Konsumenten für Bio-Lebensmittel und gesunden Lebensstil. Auf einer anderen Ebene ist das bukolische Genre eine perfekte Nische für die Kunst, die sich aus den Peripherien herleitet. Durch die Übernahme von Vermarktungsstrategien ›regionaler Lebensmittel‹ zum Verkauf des Regionalen hat ›provinzielle Kunst‹ vielleicht eine Chance, bemerkt und ernst genommen zu werden.«[10]
Bukolik bezieht sich eigentlich auf Rinderhirten bzw. Dichtung, die sich auf das Leben der Rinderhirten bezieht, oder, im allgemeineren Sinne, auf Hirten aller Art. Tatsächlich zeigte das Einladungsbild einen jungen Schweinehirten, und Vanags verwendete dann auch den Begriff »pastoral« als Synonym.

Am anderen Ende der EU organisiert der spanische Künstler und Aktivist Fernando García Dory »A Shepherds School as a Micro Kingdom of Utopia«.[11] Wenn er erklärtermaßen im »neopastoralen Genre der Kunst« arbeitet, so ist damit nicht gemeint, dass er sich als Künstler weiterhin auf die Repräsentation pastoraler Sujets, also Schäferidyllen oder ländliche Szenen im Allgemeinen, in irgendeinem Medium spezialisiert habe. Sein Spektrum reicht von traditionellen künstlerischen Ausdrucksformen wie Zeichnung bis zu kollaborativen agro-ökologischen Projekten, Aktionen und Kooperativen.

Künstler sind in den letzten beiden Jahrhunderten immer wieder aufs Land gegangen, zur Freiluftmalerei und auch, um Künstlerkolonien zu bilden. Dabei blieb aber eine ästhetische Distanz zur Landbevölkerung und ihren Tätigkeiten. Bauern waren figürliche Staffage in einer Landschaft, die vom Schauen erschlossen wurde. Und erst transformiert – als Gemälde, als Werk und Ware – in den bürgerlichen Handel gelangt.
Der Neo-Pastoralismus stiftet dagegen neue Beziehungen. Angelehnt an den Begriff der sozialen Plastik wird das Feld eines verdinglichten Werkbegriffs verlassen, in Richtung Prozesshaftigkeit und Arbeit mit nicht dauerhaften Materialien, sprich Lebensmitteln. Fernando García Dory geht mit seiner Schäferschule über den engeren Bereich der Kunst hinaus, indem er sich als Aktivist gegen den »Fortschritt« in Gestalt des Verschwindens der Schäfer in Spanien stellt. Ziel ist die Ausbildung von wirtschaftlich überlebensfähigen Schäfern.
Für Fernando García Dory ist das, was er »Neopastorales Kunstgenre« nennt, eine »Reiteration des immer gegenwärtigen pastoralen Kunstgenres«. Es ist »eingeschrieben in eine postmoderne ›Neo‹-Formulierung im Hinblick auf die kritische Untersuchung der eindimensionalen Lesart des Ruralen«.[12]
Mit dieser Lesart, etwa der medialen Aufbereitung des Ländlichen als natürlicher Idylle, in der man Natur quasi umsonst bekommt, muss sich auch der Schäferschüler, der in die Berge geht, »um Utopia zu erobern«[13], auseinandersetzen – um anzukommen in der Realität.

Das Aussterben der traditionellen Schäfer in Spanien ist nicht nur ein Phänomen der Landflucht. Ihr Gebiet wurde bereits 1918 zu einem Nationalpark erklärt, wodurch die Schäfer ihre traditionellen Allmenden verloren. Nach den 1950er-Jahren ging die Zahl der den Sommer über mit ihren Herden in den Bergen lebenden Menschen von tausend auf heute acht zurück. Sie mussten erleben, wie eine »Öko-Technokratie« neue Regeln aufstellte, die in vielen Fällen gegen ihre traditionellen Praktiken lief. Das Verbot, Wiesen abzubrennen und ihre Hütten instand zu halten oder neue zu bauen, und der Schutz der Wölfe ließ viele Schäfer aufgeben. In seinem Beitrag »Razing Arcadia and Shepherding Amongst the Ruins« schreibt Fernando García Dory: »Wie mir ein alter Schäfer einmal sagte: ›Lass uns der Welt erzählen, dass wir Schäfer die Berge nicht verlassen haben, wir wurden vertrieben.‹«[14]

 

 


[1] Michel Serres, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische (1985), Frankfurt am Main 1993, S. 155.
[2] Vgl. dazu Danièle Léger, »Les utopies du ›retour‹«, in: Actes de la recherche en sciences sociales, Vol. 29, septembre 1979, S. 45–63, und Danièle Léger, Bertrand Hervieu, Le retour à la nature. »Au fond de la forêt. L’Etat«, Paris 1979.
[3] Eigene Übersetzung, vgl. Bertrand Hervieu, Danièle Hervieu-Léger, »Les communautés rurales de l’après 68 : utopies rêvées, utopies pratiquées« (Lettre d’information n° 24), Paris (UMR IRICE) 1997, S. 5.
[4] Léger und Hervieu 1979 (wie Anm. 2).
[5] Danièle Léger, Bertrand Hervieu, Des communautés pour les temps difficiles. Néo-ruraux ou nouveaux moines, Paris 1983.
[6] Eigene Übersetzung, vgl. Hervieu und Hervieu-Léger 1997 (wie Anm. 3), S. 4.
[7] Léger 1979 (wie Anm. 2), S. 63.
[8] Karin Werner, »Eigensinnige Beheimatungen. Gemeinschaftsgärten als Orte des Widerstandes gegen die neoliberale Ordnung«, in: Christa Müller (Hg.), Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt, München 2011, S. 59.
[9] Originaltitel: »The Bucolic Genre Today: Somewhere between a Subtrend of Organic Lifestyle and Provincial Art«, Salon Populaire, Berlin 2011, vgl. www.salonpopulaire.de/?cat=12 und www.youtube.com/watch?v=l4f5zDPRJds (letzter Zugriff 8. Juli 2017).
[10] Eigene Übersetzung, vgl. www.salonpopulaire.de/?cat=12 (letzter Zugriff 8. Juli 2017).
[11] Vgl. http://issuu.com/collectionofminds/docs/microkingdom?viewMode=magazine&mode=embed; www.fernandogarciadory.info/index.php?/projects/a-microkingdom-of-utopia-shepherds-school/ (letzter Zugriff 8. Juli 2017).
[12] Fernando García Dory, »Razing Arcadia and Shepherding Amongst the Ruins«, in: Wapke Feenstra, Antje Schiffers, Images of Farming, Heijningen 2010, S. 141.
[13] Ebd., S. 142.
[14] Ebd., S. 140.

 

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