Kreuzberger Salon 74 | Wo landen?

Wo landen?
Zum terrestrischen Manifest von Bruno Latour

»›Soll ich mich in die Permakultur stürzen, mich an die Spitze der Demonstration stellen, das Winterpalais stürmen, den Lehren des heiligen Franziskus folgen, Hacker werden, Nachbarschaftsfeste organisieren, Hexenrituale wieder einführen, in künstliche Photosynthese investieren, oder wollen Sie etwa, dass ich die Spur von Wölfen aufnehme?‹«
Bruno Latour, Das terrestrische Manifest[1]

 

Boden, Erde, Territorium … all diese Begriff sind in einer Weise belastet, dass ihre Verbindung mit dem Politischen schnell eine altbekannte Werteskala auf den Plan ruft. Eine Skala, bei der es, wie Latour anmerkt, nur zwei Richtungen gibt: vor und zurück, was da heißt Vergangenheit und Zukunft, Lokales und Globales, Fortschritt und Reaktion, Tradition und Moderne.[2]

Diese Polarisierung erscheint heute zunehmend als obsolet. Man muss schon bei einem alten Sozialisten wie Karl Polanyi[3], auf den sich Latour öfter bezieht, oder einem alten Soziologen wie Gabriel Tarde[4] und ihren komplexen Einbettungen von Boden und Erde anknüpfen, um dieses Begriffsfeld neu bestellen zu können. Latour hat in diesem Zusammenhang auch eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitts Nomos der Erde[5] nicht gescheut. Die sich heute abzeichnende »Rückkehr der ERDE« ist kein »Zurück zur Scholle«.[6]

»Es gibt ganz im Gegenteil nichts Innovativeres, nichts, das stärker präsent, subtiler, technischer, künstlicher (im besten Wortsinn) und weniger rustikal und bäuerlich-ländlich wäre, nichts, das schöpferischer wäre und der gegenwärtigen Zeit mehr entsprechen würde, als darüber zu verhandeln, wie und wo wieder Bodenhaftung erzielt werden könnte.«[7]

Hintergrund all dessen ist ein Bewusstsein für unsere Gegenwart im Anthropozän. Das macht eine Neukonzeptionierung notwendig, eine Lagebeschreibung, die mit einem unreflektiert benutzten begrifflichen Instrumentarium des Holozäns (der Mensch, die Natur, der Globus etc.) nicht mehr geleistet werden kann. Latour bedient sich deshalb typografischer Stilmittel: Er setzt Begriffe in Anführungszeichen oder schreibt sie in Versalien und spielt eine Reihe von Neologismen durch (»›Gaianer‹? Zu bizarr. ›Landvolk?‹ Zu pejorativ. Ich habe mich für ERDVERBUNDENE entschieden (englisch Earthbound).«[8]

Neben der ERDE ist es im Terrestrischen Manifest das TERRESTRISCHE, das hierfür steht. Hierbei expliziert Latour Gedanken und Positionen der Anschaulichkeit halber auch anhand von Schautafeln, entwirft eine an Kompass oder Windrose ausgelegte Orientierungshilfe. Neben der oben angeführten alten Achse der Modernisierung und von dieser Linie diametral getrennt liegen zwei neue Pole: einerseits das Terrestrische, andererseits das Außererdige, so genannt als Bezeichnung für die irreale Position der Klimawandelleugner. Für Latour markiert die Pariser Klimakonferenz 2015 jenen Punkt, an dem den Beteiligten klar geworden ist, dass trotz der gemeinsamen Erklärung ihre jeweiligen Modernisierungs- und Entwicklungstendenzen nicht mit dem Erdsystem, der einen zur Verfügung stehenden Erde, machbar sind. Das bedeutet das Ende der Globalisierung, wie wir sie kannten. Ihre einstigen Protagonisten, Großbritannen und die USA, steigen aus gemeinschaftlichen Unternehmungen aus. Notwendig wäre ein Umschwenken hin zum Terrestrischen, als die Entdeckung und Verhandlung einer für alle lebbaren Realität. Dem stehen die Anziehungs- und Verleugnungskräfte des »Außererdigen« entgegen, mit seinen unhaltbaren Versprechen, seinen Schwindeleien, seinem Eskapismus, seinem Rückzug ins Nationale.

Am Ende des terrestrischen Manifests regt Latour eine Bewusstmachung und Beschreibung der heutigen Situation an. Einen großen Wurf, ein Programm für eine aktionistische Lösung, was der für die deutsche Übersetzung von Où atterrir. Comment s’orienter en politique gewählte Begriff »Manifest« möglicherweise suggeriert, gibt es nicht. Wenn man sich wie Latour einmal von der Idee des Ganzen und des Globalen verabschiedet hat, sucht man ein heroisches Subjekt, eine Instanz für ein solches Unterfangen vergebens. Zumal wenn, wie es abschließend heißt, »die universelle Lage darin besteht, in den Ruinen der Modernisierung zu leben und wie ein Blinder tastend nach einer Wohnstätte zu suchen«[9].

 


[1] Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, Berlin 2018, S. 105.
[2] Vgl. Bruno Latour, Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Berlin 2017, S. 411.
[3] »Was wir als Grund und Boden bezeichnen, ist ein mit den Lebensumständen des Menschen untrennbar verwobenes Stück Natur. Dieses Stück Natur herauszunehmen und einen Markt daraus zu machen, war das vielleicht absurdeste Unterfangen unserer Vorfahren.
Traditionsgemäß waren Boden und Arbeit nicht getrennt; die Arbeit ist Teil des Lebens, Boden bleibt ein Teil der Natur, Leben und Natur bilden ein zusammenhängendes Ganzes. Grund und Boden sind somit verbunden mit Verwandschaft, Nachbarschaft, Handwerk und Glauben, mit Stamm und Tempel, Dorf, Gilde und Kirche. […] Die ökonomische Funktion von Grund und Boden ist bloß eine seiner vielen entscheidenden Funktionen. Er verleiht dem Leben des Menschen Stetigkeit, er ist der Ort seiner Behausung, er ist eine Bedingung für seine physische Sicherheit, er bedeutet Landschaft und Jahreszeiten.« Karl Polanyi, The Great Transformation [1944], Frankfurt am Main 1978, S. 243f.
[4] »Was ist denn der Boden, wenn nicht das Ensemble der physisch-chemischen und lebendigen Kräfte, die aufeinander    einwirken, mittels einander wirken und von denen die einen – Wärme, Licht, Elektrizität, chemische Substanzen und Kombinationen – in strahlenden Wiederholungen ätherartiger oder molekularer Schwingungen bestehen, die anderen – Kulturpflanzen und domestizierte Tiere – in nicht weniger strahlenden und expansiven Wiederholungen von Generationen, die demselben organischen Typ entsprechen oder einer neuen Rasse, die durch die Kunst der Gärtner und Züchter geschaffen worden ist?« Gabriel Tarde, Psychologie économique [1902], zit. n. Bruno Latour, Vincent Lépinay, Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen, Frankfurt am Main 2010, S. 68f.
[5] »Mit anderen Worten, Schmitt projiziert in seine Theorie des Rechts die Vorurteile eines alten Mannes, der von seinem Fenster aus eine alte europäische Agrarlandschaft betrachtet. In seiner Sicht des Bodens kommen weder Anthropologie noch Ökologie vor.« Bruno Latour, Kampf um Gaia, S. 422f.
[6] Ebd., S. 412.
[7] Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, S. 65.
[8] Bruno Latour, Kampf um Gaia, S. 418.
[9] Ebd., S. 122.

 

 

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