Kreuzberger Salon 7 | Fahren (Transport)

Fahren (Transport)

Das für den Kreuzberger Salon 6 von Henry David Thoreau zitierte Motto stammte aus seinem Text »Vom Gehen«. Dort aber findet es sich am Ende einer kleinen thematischen Abschweifung, in der es um das Fahren geht. Nicht um das Fahren als Reise oder Beförderung von Personen, sondern um das Fahren von Waren, den Transport von Gütern und seine Wirkung auf das stationäre Leben. Zwischen den folgenden Zeilen Thoreaus und den Beobachtungen des polnischen Schriftstellers Andrzej Stasiuk weiter unten liegen anderthalb Jahrhunderte Transportgeschichte, und an der Gegenüberstellung dieser beiden Zitate lässt sich ablesen, welche Veränderung für die Kultur die allgemeine Mobilisierung und die Transportrevolution mit sich gebracht hat.

»Das Dorf (village) ist der Ort, zu dem die Wege hinführen, eine Art Erweiterung der Landstraße, wie ein Fluß sich zu einem See erweitert. Es ist der Körper, und die Straßen sind seine Arme und Beine – ein trivialer oder quadrivialer Ort, ein Ort der drei oder vier Wege, die Durchgangsstraße und das Wirtshaus der Reisenden. Das Wort [village] kommt vom lateinischen villa, das Varro zusammen mit via, Weg, oder älter, ved und vella, von veho, bringen, tragen, befördern, herleitet, weil das Landgut mit dem Landhaus (villa) der Ort ist, von dem Dinge fort- und zu dem Dinge hingebracht werden. Von denen, die sich ihren Unterhalt durch Gespannfahren verdienen, hieß es vellaturam facere. Daher auch das lateinische Wort vilis und unser vile (gemein, verächtlich, wertlos) sowie vilain (Schurke). Das deutet darauf hin, welcher Entartung Dorfbewohner (villagers) unterliegen. Sie sind zermürbt vom Reisen, das an ihnen vorbei- und über sie hinweggeht, ohne dass sie selbst reisen.«[1]

Obwohl sich die neuzeitliche Besiedlung Amerikas einer großen Mobilisation in der Alten Welt verdankte, blieb am Ankunftsort dann doch alles beim Alten, d. h. bei einem Verständnis von Sesshaftigkeit nahezu antiker Prägung. Es gibt Orte und es gibt Verbindungen zwischen ihnen, Wege. Mit den Orten beschäftigt sich die Topologie als Theorie des Ortes bzw. Feldes. Und in »Discovering the Vernacular Landscape« (1984) entwarf John Brinckerhoff Jackson die Idee einer Hodologie (von griechisch hodos, »Weg«) als Wissenschaft der Wege, Pfade, Bahnen, Straßen und der Bewegung auf ihnen.

Orte und Wege scheinen dabei nicht von einander getrennt gedacht werden zu können. Thoreau benutzt zur Darstellung ihrer Verbindung Metaphern des Organischen und Natürlichen (Körper/Gliedmaßen bzw. Fluss/Seen). Andere Konzepte bedienen sich geometrischer Muster, etwa konzentrischer Kreise (Heinrich von Thünen, Walter Christaller) mit Punkten und ihren Verknüpfungen. Zurzeit hat sich allgemein das Netz durchgesetzt. Orte und Wege werden in einem »Raum der Ströme« (Manuel Castells) angesiedelt, in dem Menschen, Waren und Informationen unterwegs sind.

Wie weit das z. B. schon vor 4000 Jahren der Fall war, hat der erstaunliche Fund der Himmelsscheibe von Nebra gezeigt. Sie diente der astronomischen Bestimmung von Aussaatterminen an einem singulären Ort, also einem ortsverhafteten agrarischen Leben. Die Metalle aber, aus denen sie hergestellt wurde, waren über Handelswege von weit entfernten Orten gekommen: Kupfer aus Österreich, Gold und Zinn aus Rumänien oder Cornwall.

Zu diesen Verknüpfungen von Orten und Wegen heißt es bei Bruno Latour einmal:

»Kein Ort ist beherrschend genug, um global zu sein, und kein Ort ist selbstgenügsam genug, um lokal zu sein.«[2]

Es gibt einen strukturellen Mangel in sesshaften Gesellschaften, der sie nach Dingen von jenseits des Horizontes verlangen lässt und sie letztlich für die große Verführung durch fremde Dinge und Waren anfällig macht. Fuhrleute und Händler haben im Laufe der Geschichte Karriere gemacht. Gewonnen hat dabei der Weg über den Ort, der Verkehr über die Ruhe, der Fortschritt und die Dynamik über das Stationäre, das Globale und der Anspruch über das Selbstgenügsame und die Bescheidenheit sowie das Allgemeine über das Vernakuläre. Wobei den Verlierern natürlich erst mit dem Fortschreiten ihres Verschwindens immer mehr Wahrnehmung und Wertzuschreibung zuteil wird.

Henri Lefèbvre hat den Aufstieg des Handels folgendermaßen skizziert:

»Tauschgeschäft und Handel, die niemals fehlen, gewinnen an Bedeutung. Ursprünglich mochten sie von suspekten Leuten, den ›Fremden‹, wahrgenommen worden sein, aber bald werden sie aufgrund ihrer Funktion wichtig. Örtlichkeiten, die für Tausch und Handel bestimmt sind, tragen zunächst die Zeichen der Heterotopie. Gleich den dort lebenden und Handel treibenden Menschen sind auch sie ursprünglich von der politischen Stadt ausgeschlossen: Karawansereien, Märkte, Vororte usw. Der Prozeß der Integration von Markt und Ware (Menschen und Dingen) in die Stadt besteht über Jahrhunderte fort. Handel und Verkehr, unerläßlich sowohl zum Überleben als auch zum Leben, bringen Wohlstand und Bewegung.«[3]

Aus Thoreaus Schurken, den Fuhrleuten, wurden allmählich handeltreibende Bürger, die den landbesitzenden Adel ablösten, der sich seinerseits aus dem institutionalisierten Räubertum entwickelt hatte. Politisch und ökonomisch löst der Marktplatz das Schloss ab. Die Zunahme des Handels und die Vorherrschaft des Kaufens vor dem Selbermachen greift immer tiefer in die Kultur ein.

»Diese Bewegung der zunehmenden Marktintegration hat eine wachsende subsumptive Gewalt: Sie zieht immer mehr Lebensbereiche in ihren Bann, zerstört alle übrigen subsistenzwirtschaftlichen und kulturell-norm-integrierten Kreisläufe und entfaltet schließlich, ihrer inneren Logik folgend, eine dynamische Tendenz: Wirtschaftwachstum als Systemimperativ.«[4] Das stellte Rolf Peter Sieferle bereits vor drei Jahrzehnten fest.

Was bleibt dabei kulturell vom Dorf, von dem Thoreau sprach, übrig? Im Zeitalter der EU-Osterweiterung macht Andrzej Stasiuk in der Welt hinter Dukla im Osten Polens seine Beobachtungen zum Warenverkehr und den Auswirkungen auf die Landbewohner, zum Verlust von Autarkie, eigener Kultur, dem Verschwinden des Vernakulären. Die Fuhrleute haben die Übermacht, während die Landbevölkerung gar nicht wahrnimmt, wie ihr geschieht.

»In der Ferne zogen riesige Lastkraftwagen mit erregenden Aufschriften auf den roten und gelben Planen vorüber, die glänzenden Geschosse der Volvo-Tanks, die grasgrünen Mercedes-Laster, DAF-Sattelschlepper, rausgeputzte Jelcz’, schneeweiße SCANIAs, und dazwischen das Kroppzeug der Pkw wie die kleineren Steinchen an der Halskette des Kapitalismus: Amethyste, Smaragde, Rubine, Opale, Saphire – alles in der Sonne, funkelnd, von Osten nach Westen und zurück, quer durch Europa mit klebrigem Quietschen der Reifen auf heißem Asphalt, dicke Typen am Steuer, in Lederjacken, die Marlboro zwischen den Lippen und den BLAUPUNKT voll aufgedreht, das Pedal durchgedrückt, als reite sie der Teufel oder sie ihn (wer kann das wissen), als stemmte sich die Zeit eine schmale Furt zwischen die alten und erstarrten Anhöhen, um dort Schwung zu holen, als wollte sie ganze Jahrhunderte wettmachen, alles hinter sich lassen und irgendwo jenseits des materiellen, bewohnten Raums aufkommen. So sah das aus.

Auf den Hügeln, den glatten Laken an der Straße, am Rande der Erlenwäldchen standen die Einheimischen und schauten zu, wie ihre Welt sich, einem Stück Festland oder einer Eisscholle gleich, ablöste und rückwärts trieb, auch wenn scheinbar alles an seinem Ort verharrte. Die eisernen Eggen auf den Fuhren, die Heugabeln, die Gespanne, die Gummistiefel an bloßen Füßen, die Geruchssymbiose von Stall und Haus, das uralte Geflecht von menschlicher und tierischer Existenz, saure Milch, Kartoffeln, Eier, Speck und keinerlei weite Raubzüge, keine Wunder oder Legenden, außer satt zu sein und in Ruhe zu sterben. Da standen sie, auf die hölzernen Stiele der Geräte gestützt, in der Erde verwurzelt, die sie bald abschütteln sollte wie ein Hund das Wasser. Die flimmrige farbige Linie der Straße lief unten durchs Tal. Im Grunde war es ein tektonischer Bruch, eine geologische Verwerfung an der Epochenwende. Sie standen da und schauten. Zumindest hätten sie das tun sollen. In Wirklichkeit taten sie, was sie immer taten, ohne eine Spur Interesse, ohne Angst, völlig beansprucht von der Stofflichkeit der Welt und ihrem Gewicht, das sie ihr Dasein als etwas Reales empfinden ließ.«[5]

 


[1] Henry David Thoreau, »Vom Gehen« (1862), in: ders., Leben ohne Grundsätze. Ausgewählte Essays, Leipzig und Weimar 1986, S. 191f.
[2] Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main 2007, S. 352.
[3] Henri Lefèbvre, Die Revolution der Städte, Dresden 2003, S. 20f.
[4] Rolf Peter Sieferle, Der unterirdische Wald. Energiekrise und Industrielle Revolution, München 1982, S. 57.
[5] Andrzej Stasiuk, Die Welt hinter Dukla, Frankfurt am Main 2000, S. 78f.

 

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