Kreuzberger Salon 53 | Unrein

Rotwein naturelAutonome Herstellung und autonomer Geschmack

Die alkoholische Gärung ist ein Sinnbild von Metamorphose und Fruchtbarkeit, Dynamik und Autonomie. Sie folgt eigenen, biochemischen Gesetzen – den Stoffwechselprozessen von Mikroorganismen. Das, was heute allgemein als Wein oder Bier bekannt ist, repräsentiert weitgehend kulturelle und getränketechnische Normen, weniger die dynamische Vielfalt, die von komplexen Reife- und Gärungsprozessen hervorgebracht wird, wenn sich Früchte in Wein oder Getreidesud in Bier verwandeln.

Doch nach Jahren der Stagnation ist nun auch die Erzeugerszene selbst in Gärung geraten. Bei Wein, Bier, Obstwein und Bränden gibt es unerwartete Dynamiken, die betonierte Gewissheiten und Hierarchien zerbröseln lassen. Noch vor drei Jahren war es in Deutschland unvorstellbar, dass eine neue Generation von Brauern und Mikrobrauereien, die in ihrer Handlungsweise weitgehend autonom und industriefern auftritt, der stagnierenden deutschen Bierindustrie in fast allen Bereichen die Kompetenz für Geschmack und Braukunst aus der Hand nehmen würde. Und im Weinbau galten bislang Biowinzer, die die Phrase vom reinen Wein ernst nahmen und konsequent auf Zusatzstoffe im Wein verzichteten, als Außenseiter und Eigenbrötler. Heute sprechen ihre Naturweine viele Menschen an, die einen anderen, authentischen Zugang zum Wein suchen.

Naturweinwinzer lassen sich auch von Herstellungsweisen des versunkenen kleinbäuerlichen Weinbaus inspirieren, etwa wenn Weißweine wie Rotweine auf der Maische vergoren und weder mit Fremdstoffen filtriert noch geschönt werden, sondern mit ihrer Gärungshefe »naturtrüb« in Flaschen abgefüllt werden. Diese Methoden erlauben es, den Wein ohne Konservierungsstoffe zu erzeugen, er wird im Laufe eines sehr langen Reifeprozesses ohne Zusatzstoffe stabil. Da diese Prozesse offener sind als bei der konventionellen Herstellung, werden auch die stilistischen Unterschiede zwischen Weinen und einzelnen Erzeugern wieder größer: Das Gelingen dieser Weine ist wieder stärker an das Fingerspitzengefühl und die Sensibilität des Erzeugers gebunden.

In Deutschland haben es diese Weine besonders schwer, da klassische, auch hochwertige deutsche Weißweine oft reduktiv ausgebaut und weinstilistisch auf filigrane Fruchtigkeit hin erzeugt werden. Oft besitzen sie eine gewisse Restsüße (unvergorener Fruchtzucker). Dieser Stil wird jedoch weitgehend technologisch erzeugt: Hohe Schwefelgaben und Filtrationen stabilisieren den Wein und konservieren seine flüchtigen Aromen. Der berühmte Hauch »natürlicher« Restsüße im Moselriesling funktioniert nur dank hoher Schwefelgaben und scharfer Filtration. Ohne diese Eingriffe und Zusätze würde der Wein in der Flasche wieder zu gären beginnen. Verzichtet ein Winzer auf diese Interventionen – etwa bei der Naturweinerzeugung –, entstehen vollkommen andere, faszinierende Geschmacksbilder und Eigenschaften, die prozessoffener und stilistisch individueller wirken. Die Stabilisierung dieser Weine geschieht durch einen sehr langen Kontakt mit ihrer Hefe sowie durch die traubeneigenen Tannine (Polyphenole). Ein als Naturwein erzeugter Riesling schmeckt nicht mehr nach Pfirsich und gelben Früchten – seine Komplexität zeigt sich anders. Begriffe wie Sortentypizität und Leitaromen verlieren ihre Bedeutung.

Denn die geschmacklichen Aromen konventioneller Weine sind an den Konservierungsstoff Schwefel gebunden, der dem Wein zugesetzt wird. Ohne das Antioxidationsmittel Schwefel entwickelt der Wein ganz andere Eigenschaften und Aromen – man kann im Glas nachvollziehen, wie der Kontakt mit Luft ihn verändert. Das, was ein geschwefelter Wein in Jahren, Jahrzehnten an Reifeprozess in der Flasche durchläuft, geschieht bei einem ungeschwefelten Wein in wenigen Stunden und Tagen. Zeit und Raum definieren sich anders, und auch der Geschmack ist unkontrollierter, offener. Obgleich auch ein Naturwein immer noch ein Kulturprodukt ist, lässt er im Entstehungsprozess doch mehr Autonomie zu. Wein und Weinherstellung sind näher an ihren Ursprung, die bäuerliche Weinerzeugung, gerückt.

Interessant ist, dass neue Protagonisten auftreten. Oft sind es keine Getränketechnologen, sondern Quereinsteiger, die von außen kommen und Herzblut, neue Ideen und ein anderes Denken einbringen. Zugleich wird auch die tradierte Hierarchie infrage gestellt, derzufolge edler, komplexer Wein ausschließlich aus Weintrauben hergestellt werden kann. Plötzlich entstehen faszinierende Weine dort, wo sie eigentlich gar nicht herkommen dürften: Hoch im Norden, auf der dänischen Insel Lolland, werden Kirschweine erzeugt, die geschmacklich faszinierender sind als mancher berühmte Rotwein aus der Toskana oder aus Bordeaux. Aus Äpfeln, Birnen und Quitten von deutschen Streuobstwiesen werden stille und schäumende Weine hergestellt, die feiner sind als viele Spitzenweine und mancher berühmte Champagner. Und in urbanen Räumen, etwa in Neukölln oder Kreuzberg, werden in limitierten Mengen handwerkliche Kreativbiere gebraut, die ein neues Publikum, eine neue Generation ansprechen, die keine Lust mehr auf sinnentleerte Rituale, arrivierte Spitzenwinzer, Multiplikatoren, Fernsehbiere und Technoweine hat.

Wenn diese Weine und Biere anders sind, ihre Herstellung und ihr Charakter autonomer sind, ist auch ihr Geschmack anders, was Fragen aufwirft:

Wie schmeckt Bier, das nicht nach dem sogenannten »Reinheitsgebot« hergestellt wurde, also dem keine Schaumstabilisatoren zugesetzt wurden, das nicht pasteurisiert und mit Kieselgur und künstlichen Polymeren gefiltert wurde? Wie schmeckt Bier, das nicht mit standardisiertem Hopfenextrakt versetzt, sondern mit frischen Hopfenblüten gewürzt wurde? Wie schmeckt Bier, das monatelang in Fässern gereift und mit echten Gewürzen aromatisiert wurde? Und das vom Geschmack der Hefe und des Getreides geprägt ist.

Wie schmeckt Wein, der nicht »kontrolliert« mit sogenannten Reinzuchthefen vergoren, nicht mit Enzymen behandelt, weder gefiltert, geschönt noch mit Schwefel haltbar gemacht wurde? Ist es noch Wein oder schon etwas anderes?

Wie hinderlich ist die Konsumentenerfahrung, wenn es darum geht, Weine oder Biere geschmacklich wahrzunehmen, die sich amtlichen und industriellen Normen entziehen, weil ihre Herstellung sich auf die Autonomie natürlicher Fermentationsprozesse gründet?

Gemeinsam werden wir eine kleine Auswahl geschmacklich sehr individueller, schwefelfreier Streuobstweine, Naturweine und Craft-Biere probieren. Und wer am Ende noch frisch und neugierig ist, kann auch noch einen Single Cask Whisky aus Brandenburg kosten.

Till Ehrlich

 

 

Foto: Till Ehrlich

 

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