Kreuzberger Salon 46 | Vierfalt

IMG_2787_KopieVierfalt – Modelle von Weltsichten       verschoben → September 2015

In einem neuerdings erhobenen, teils dystopischen bis apokalyptischen Ton wird vom gegenwärtigen Zeitalter als Anthropozän gesprochen, dem Zeitalter des Menschen. Die bisherige Trennung zwischen Mensch und Umwelt, zwischen Kultur/Gesellschaft und Natur, zwischen Innen und Außen erscheint damit aufgehoben. Es ist nicht so, dass diese Dualismen und ihre Grenzziehungen in den letzten Jahrzehnten nicht schon erodiert wären. Das beruhte bislang allerdings eher auf der philosophischen Arbeit an den Begriffen. Neu ist jetzt, dass diese Grenze aus einem Bereich heraus infrage gestellt wird, der erst durch die Grenzziehung zwischen Kultur und Natur und ihren jeweiligen Wissenschaften entstanden ist: aus einem Part der Naturwissenschaften, konkret gesagt, der Geologie.

Keine ideengeschichtliche Operation, sondern die exakte positivistische Messbarkeit menschlich erzeugter Emissionen und Sedimente soll Kriterium für die Benennung unseres Zeitalters als Anthropozän sein. Der bisherige Graben zwischen den Bereichen Kultur und Natur ist damit gleichsam verfüllt worden, wie Senken in der Landschaft mit Müll zugeschüttet werden. Diese Deponierungen haben ein Ausmaß angenommen, das nicht nur die nähere oder weitere Umwelt betrifft, sondern die ganze Erde anthropisiert. Damit ist nun aber auch die konstituierende Aufteilung abhandengekommen, die diese Praxis erst ermöglicht hat: nämlich die Trennung zwischen dem Bereich des Menschlichen einerseits und der Natur in ihrer doppelten Inanspruchnahme als Ressourcenquelle und Deponie. Die von Europa ausgehende weltweite Verbreitung bzw. Unversalisierung dieses Ansatzes, die »Unterwerfung der Oberfläche des Planeten unter die Erfordernisse einer Industriegesellschaft«[1] (Karl Polanyi), musste früher oder später an diese Grenze kommen. Andere Kulturen haben diesem Prozess der Kolonisation nicht allzu viel entgegensetzen können und sollten in ein lineares Programm der Entwicklung nach westlichem Vorbild integriert werden. Beziehungsweise in den westlichen Markt. Im Gefolge der Eroberung der Welt wurden aber auch andere Weltmodelle entdeckt, andere Formen, mit denen Menschen die Beziehungen zwischen sich wie auch zu nichtmenschlichen Lebewesen und ihrer Umwelt organisieren.

Mit seinem 2011 auf Deutsch erschienenen Hauptwerk Jenseits von Natur und Kultur (Par-delà nature et culture, 2005) hat sich der französische Anthropologe Philippe Descola den vier großen Kosmologien gewidmet: Naturalismus, Animismus, Analogismus und Totemismus. Für Descola, Schüler von Claude Lévi-Strauss und dessen Nachfolger am Collège de France in Paris, ist unser Naturalismus nur eine aus einem Fächer von möglichen Sichtweisen: »Der Dualismus von Natur und Kultur ist eine Weise unter anderen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Falten der Welt aufzuspüren, und es gibt keinen Grund, diese ontologische Verteilung […] für vernunftwidriger oder willkürlicher zu halten als eine andere.«[2]

 


[1] Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (1944), Frankfurt am Main 1978, S. 245.
[2] Philippe Descola, Die Ökologie der Anderen, Berlin 2014, S. 35.

 

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