Kreuzberger Salon 45 | Gleichheit

Gleichheit

»Die Gleichheit ist nur ein Übergang zwischen zwei Hierarchien, so wie die Freiheit nur eine Brücke zwischen zwei Disziplinen ist. Was nicht heißen soll, daß Vertrauen und Macht, Wissen und Sicherheit jedes Bürgers im Laufe der Jahre nicht wachsen würden.«
Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung (1890)

Die Beobachtung der Sonne und Bestimmung der Sonnenwenden war für prähistorische agrarische Gesellschaften Bedingung für die jahreszeitlich richtige Terminierung von Aussaat und Ernte, für ein Leben nach dem Kalender der Natur. Unser Jahresanfang hingegen geht auf einen städtischen Verwaltungsakt zurück: Mit dem Jahr 153 v. Chr. begannen die Konsuln der Römischen Republik ihre Amtszeit nicht mehr am 1. März, sondern am 1. Januar. Die Termine des Sonnenjahrs – Wintersonnenwende und Mittsommernacht sowie die beiden Tagundnachtgleichen in Frühling und Herbst – fallen in unserem Kalender in den Zeitraum vom 20. bis 23. der Monate Dezember und Juni, März und September.

Während der Französischen Revolution wurde 1793 eine Kalenderreform unternommen, bei der die herbstliche Tagundnachtgleiche per Dekret zum Jahresbeginn avancierte. Anlass hierfür war die Abschaffung der Monarchie am 22. September des Vorjahres, dessen astronomische Konstellation als Beginn einer neuen Ära und Zeichen der politischen Gleichheit in den Republikanischen Kalender aufgenommen wurde. Im selben Zug wurden jedem Tag statt der bisherigen christlichen Heiligen etwas jahreszeitlich Passendes aus der Landwirtschaft zugeordnet: eine Pflanze, ein Tier, ein Gerät oder ein Mineral. Doch gerade unter Bauern war der Kalender unbeliebt, weil sein Dezimalsystem mit einer Zehntagewoche zu weniger Ruhetagen als die herkömmliche Siebentagewoche führte.

Solarkalender sind historisch jüngeren Datums als Lunarkalender. Denn die Bestimmung von Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen ist schwieriger als die Beobachtung von Mondphasen. Bei Pflanzung und Aussaat werden mitunter neben der Jahreszeit auch die Mondphasen berücksichtigt. Dennoch bleibt die Sonne im landwirtschaftlichen Solarenergiesystem das maßgebliche Gestirn.

Mit der Nutzung von »beerdigtem Sonnenschein«[1] (Jeffrey S. Dukes) entkommen die Menschen der »Peitsche der Sonnenstrahlen«[2] (Gabriel Tarde), und einer größeren Anzahl ist es möglich, statt auf den Feldern ein Leben im »Gutshaus der modernen Freiheit«[3] (Dipesh Chakrabarty) zu verbringen. Was hier bildlich ausgedrückt wird, ist die Tatsache, dass die Transformation von Sonnenenergie in Nahrung unter der Herrschaft der Sonne und ihrer irdischen Vertreter wie Sonnenkönigen in der Regel unter einem Regime von Feudalismus oder Sklaverei geschah. Erst mit der Nutzung von Kohle, Erdöl und Maschinen können größere Bevölkerungsmassen an jener Freiheit und Demokratie teilnehmen, die in der Antike nur einem kleinen Teil von Bürgern zuteilgeworden war.

Der Zusammenhang zwischen Energieform und Ausprägung der Demokratie macht es aber fraglich, ob Freiheit und Demokratie dem Paradigma vom Wachstum entsprechend immer weiter zunehmen werden. Oder ob sie mit dem Ende des Wirtschaftswunders, den Trente Glorieuses, wieder im Abnehmen begriffen sind, wir den »peak democracy«[4] (Mathias Greffrath) vielleicht schon hinter uns haben.

Der französische Soziologe Gabriel Tarde begreift ein Jahrhundert nach der Französischen Revolution Freiheit und Gleichheit nicht linear, sondern eher zyklisch. Sie entstammen für ihn auch nicht einer Revolution von unten. Idee und Praxis der Gleichheit wurden vielmehr in der Aristokratie vorgeprägt und dann von anderen Schichten übernommen.

Ähnlich sieht es der Soziologe Wolfgang Streeck heute. Der Rückgang der Demokratie, wie wir sie kannten, folgt der Umsetzung von Ideen neoliberaler Thinktanks: eine Revolution bzw. Gegenrevolution von oben.[5]

Die revolutionäre Zeitrechnung ist gescheitert. Der Republikanische Kalender – ein Projekt der Rationalität – wurde, obwohl er für alle Zeiten und alle Völker hätte gültig sein sollen, 1805 von Napoleon Bonaparte mit seiner Krönung zum Kaiser wieder abgeschafft. Das war nicht zuletzt politisch motiviert. Mit den Veränderungen durch die im 19. Jahrhundert zunehmenden technischen Innovationen der industriellen Revolution hätten die landwirtschaftlichen Utensilien des Kalenders aber vermutlich auch bald schon antiquiert gewirkt, als Status quo der Landwirtschaft am Ende des 18. Jahrhunderts. Abgesehen von dem durchsichtigen Versuch, sich der christlichen Heiligen zu entledigen, zielte die Zuordnung von Pflanzen, Tieren und Geräten aber auch auf die Herrschaft der Natur und die Wertschätzung der Bauernschaft als einzig produktivem Stand. Der auf Gedankengut der Physiokraten beruhende Kalender war Gegenentwurf zur Fiktion des Pastoralen, wie sie von der Aristokratie gepflegt wurde. Idealisierende Bilder und Realitäten der Landwirtschaft liegen auch heute weit auseinander.

Der um den 21. März beginnende Monat Germinal (Keimmonat) ist der erste Monat des Frühlingsquartals, Brutkasten, Bienenstock und Pfropfmesser und Weiteres sind ihm zugeordnet.

Zeitgleich mit dem diesjährigen Frühlingsbeginn und der Tagundnachtgleiche am 20. März findet eine totale Sonnenfinsternis statt. Während ihr Kernschatten über den Nordatlantik wandert, liegt der Bedeckungsgrad in Deutschland bei bis zu ca. 75 Prozent. Je nach Bewölkung an diesem Tag wird diese Sonnenfinsternis nicht nur eine Himmelserscheinung sein, sondern sich auf die Erzeugung von Solarstrom auswirken. Mit dem Beginn der Verdunklung müssen die Netzbetreiber den Ausfall der Photovoltaikanlagen durch andere Kraftwerke ersetzen und sie in einem kurzen Zeitraum bei Rückkehr der Sonnenstrahlen wieder herunterfahren, um die Netzstabilität nicht zu gefährden.

 



[1] Jeffrey S. Dukes, »Burning Buried Sunshine: Human Consumption of Ancient Solar Energy«, 2002, http://globalecology.stanford.edu/DGE/Dukes/Dukes_ClimChange1.pdf (letzter Zugriff 9. März 2015).
[2] Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung [1890], Frankfurt am Main 2003, S. 265.
[3] Dipesh Chakrabarty, »Das Klima der Geschichte: Vier Thesen«, S. 169–196, hier S. 181, in: Europa als Provinz, Frankfurt/New York 2010.
[4] Mathias Greffrath, »Im Fegefeuer des Wachstums«, in: Le Monde diplomatique, 13.02.2015.
[5] Vgl. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013; Bonn 2013, S. 111, 158.

 

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