Kreuzberger Salon 44 | Agrarindustrie und Bäuerlichkeit

Agrarindustrie und Bäuerlichkeit

»Bis ins Mark unserer Begriffe und Empfindungen sind wir Doppelagenten, die zwischen den agro-imperialen und den techno-kapitalistischen Strukturen pendeln.«
Peter Sloterdijk, Sphären III

»Boden«, »Vielfalt«, »Agrarreform«, »Tiere in der Landwirtschaft« … die ganze Themenreihe des Kritischen Agrarberichts der letzten Jahre wurde immer im Rahmen eines Spannungsfeldes behandelt, das die Ausgabe 2015 nun explizit zum Schwerpunkt macht: »Agrarindustrie und Bäuerlichkeit«[1]. Bereits seit seiner Gründung in den 1990er-Jahren definiert sich der Arbeitskreis Bäuerliche Landwirtschaft (ABL), ein Mitglied des den Kritischen Agrarbericht herausgebenden AgrarBündnis e. V., als Gegenbewegung zur vorherrschenden agrarindustriellen Ausrichtung:

»Bäuerliches Leben, Denken und Wirtschaften bedeutet Verbundenheit mit Hof, Natur und Heimat, Verantwortung für Tiere, Boden und Pflanzen, weitgehend selbstverantwortliches Arbeiten, Denken in Generationen und Kreisläufen, Arbeiten im Zusammenhang mit der Familie oder anderen engen Sozialbeziehungen.«

Die Polarisierung Agrarindustrie und Bäuerlichkeit ist somit strukturbildendes Element des AgrarBündnisses, und mittlerweile tritt – nicht nur bei jährlichen Demonstrationen wie »Wir haben es satt!« in Berlin – ein breites Spektrum von Organisationen aus Landwirtschaft, Naturschutz und Zivilgesellschaft für eine bäuerliche Landwirtschaft ein. »Zusammenarbeiten – für eine andere Landwirtschaft« hatte 2012 programmatisch auf dem Titel des Kritischen Agrarberichts gestanden.

Der Begriff Bäuerlichkeit scheint umso mehr Zulauf zu haben, je mehr die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten und im Besonderen derjenigen, die sich noch herkömmlich als Bauern verstehen, zurückgeht. Gerade die Industrialisierung hat durch Mechanisierung und Automatisierung negative Auswirkung auf die Beschäftigungszahlen in der Landwirtschaft, wie Thomas Hentschel und Theodor Fock in ihrem Beitrag zum Wandel der Arbeit ausführen. Auch an Auszubildenden fehlt es, denn für die junge Generation »hat der Beruf des Landwirts immer noch ein schlechtes Image«.

In Mainstream-Medien und Werbung hingegen kursieren idealisierende Bilder des Bäuerlichen, oft des naturnahen bäuerlichen Familienbetriebs, die zwar wenig mit der heutigen landwirtschaftlichen Realität zu tun haben, aber gern zur Vermarktung selbst von Produkten der Agarindustrie eingesetzt werden.

Anliegen der Schwerpunktwahl des Kritischen Agrarberichts 2015 ist somit eine Präzisierung dessen, was in eigener Sache unter Bäuerlichkeit verstanden werden kann. In diesem Sinne wirft Peter Moser, der Leiter des Archivs für Agrargeschichte in Bern, einen Blick zurück ins 19. Jahrhundert, wo ab etwa 1870 das bis heute wirkmächtige Wirtschaftsmodell des bäuerlichen Familienbetriebs seine Bedeutung erlangte. Gestützt auf die neuen mit fossilen Energien betriebenen Transportmöglichkeiten und die Doktrin des Freihandels begann damals die zunehmende Marktintegration der Landwirtschaft. Es entstand das System von Fremdversorgung durch weltweite Arbeitsteilung und Interdependenzen. Agrarische Großbetriebe gerieten dabei durch importbedingten Preisverfall landwirtschaftlicher Produkte und die Abwanderung von Beschäftigten zu industriellen Betrieben mit attraktiveren Löhnen wirtschaftlich unter Druck. In dieser Situation erwiesen sich familiäre Subsistenzbetriebe als resistenter und avancierten in der Folge zum Idealbild des freien Bauern und von traditioneller Bäuerlichkeit schlechthin.

Nicht zuletzt durch solche Verwerfungen war das Verhältnis von Industrie und Landwirtschaft schon um 1900, nach ungefähr einem Jahrhundert Industrialisierung, ein Thema von gesellschaftlicher Tragweite. Die Agrarfrage, so der Titel von Karl Kautskys über 400-seitigem Buch von 1899, würde durch das Aufgehen des Agrarischen in der Industrie gelöst werden. Kautsky, führender Theoretiker der damaligen SPD, sah in der Folge von Karl Marx die landwirtschaftliche Produktion ganz in Analogie zur industriellen, wie Moser ausführt. Sein Parteikollege Eduard Weiss vertrat demgegenüber die Idee einer wesentlichen Andersartigkeit der Landwirtschaft, nämlich als zyklisches Wirtschaften mit lebendigen Wesen. Beide Autoren stehen damit für die gegenwärtig immer noch virulente Polarisierung Agrarindustrie und Bäuerlichkeit. Heute, so Moser, hat sich jedoch weder die eine noch die andere Tendenz in Reinform durchgesetzt. Enwickelt hat sich vielmehr eine Mischform aus Industrie und Landwirtschaft.

Im Vergleich mit anderen Wirtschaftsbereichen erfolgte die Industrialisierung der Landwirtschaft mit einer gewissen Verzögerung. Sie beschleunigte sich erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und wurde, wiederum mit Karl Marx als Ideengeber, in der DDR im Sinne einer Angleichung von Stadt und Land stärker vorangetrieben als in der alten Bundesrepublik. Die aus der Zwangskollektivierung hervorgegangenen und nach der politischen Wende privatisierten Großbetriebe machten so, wie Michael Beleites ausführt, paradoxerweise nach dem Ende des Sozialismus erst richtig Karriere. In seinem Plädoyer für die bäuerliche Landwirtschaft vertritt Beleites die Auffassung, dass »seit dem Eintritt in die Ackerbaukultur vor rund 10.000 Jahren […] die bäuerliche Familienwirtschaft die tragende Schicht der Kulturentwicklung gewesen« sei und »auch die moderne Industriegesellschaft […] in ihrer sozialen und humanökologischen Verfassung ein Bestandteil der Ackerbaukultur [ist]«.

Damit wird jedoch die bäuerliche Familienwirtschaft, so wie wir sie kennen, zu einem makrohistorischen Phänomen stilisiert. Dagegen lässt sich halten, dass sie eine historische Ausprägung ist, die sich so erst im Rahmen des industriellen Regimes entwickelt hat. Mit dem Übergang vom agrarischen Solarenergiesystem zum auf fossilen Energien beruhenden Industriesystem hat sich der Bereich des Bäuerlichen verändert. Auch die Erscheinungsform der Landschaft, selbst die Möglichkeit des Naturschutzes, resultiert aus diesem Umbruch. Denn das neue Energieregime ermöglichte bzw. gewährte eine Entlastung der bislang betriebenen Energiegewinnung allein aus land- bzw. forstwirtschaftlichen Flächen, wie sie bis dahin in feudalen Systemen geherrscht hatte.

Das heutige Programm der Energiewende, eine Abkehr von fossilen Energien und Hinwendung zu erneuerbaren Energien, bedeutet so wiederum eine »Rückkehr der Fläche«[2] (Rolf Peter Sieferle), die zwangsläufig die bekannten unbeliebten Phänomene zeitigt. Wenn man sich nicht wie der Schriftsteller John Berger entscheidet, »in die französischen Alpen zu ziehen, ziemlich hoch hinauf, zu hoch für die industrielle Landwirtschaft«[3], so wird man im Tiefland überall damit konfrontiert. Am Beispiel von Schleswig-Holstein beschreiben Wolfgang Riedel und Christian Scholz die Metamorphose einer alten Kulturlandschaft zur modernen Energielandschaft. Die landwirtschaftliche wie ästhetische »Monotonisierung von Landschaft«, hier die Vermaisung im Zuge des Biogasbooms, stiftet neben Umwelt- und Bodenbelastungen günstige Bedingungen zur Entstehung von Resistenzen bei Schädlingen. Aber auch für die Entwicklung von Superweeds, wie Martin Häusling, Mitglied in der Fraktion Grüne/EFA des Europäischen Parlaments, auf Basis einer ausführlicheren Studie beiträgt, sind Monokulturen in Verbindung mit Glyphosat verantwortlich. Glyphosat ist in Form verschiedener Markenprodukte das weltweit am meisten verkaufte Pestizid. In Deutschland wird es auf ungefähr 40 Prozent der Ackerflächen eingesetzt.

Die sogenannten Superunkräuter haben Resistenzen gegen den Wirkstoff erworben, sie lassen sich durch Glyphosat nicht mehr bekämpfen. Da es überdies in die Pflanze eindringt und so auch in die Nahrung von Menschen und Tieren gelangt, stellt es eine, wie Julia Sievers-Langer darlegt, unterschätzte Gefahr dar. Seine Verwendung hat sich im Zuge des Anbaus von Glyphosat-resistenten oder -toleranten, gentechnisch veränderten Pflanzen weit verbreitet.

Riedel und Scholz konstatieren polarisierend ausgedrückt so Deutschlands Zerfall »in zwei hauptsächliche Bildkategorien«: »Erstens der Naturreichtum in Großschutzgebietsregionen, National- und Naturparks und zweitens das neue, moderne Deutschland der technoiden Siedlungs-, Agrar- und Energielandschaften«. Für Bäuerlichkeit bleibt da nicht viel Raum.

Es erscheint von daher fast verwegen, wenn Michael Beleites in vielen Regionen Deutschlands – weite Teile Ostdeutschlands können aus oben angeführten Gründen nicht gemeint sein – das Fortbestehen von agrikulturellem Erbe aus dem 19. Jahrhundert auszumachen glaubt, das es zu revitalisieren gälte. Höfe, Wirtschaftsgebäude, Felder, Besitzstrukturen: »Was wir darüber hinaus brauchen, ist eine Wiederbelebung der derzeit toten bäuerlichen Infrastruktur mit Menschen, die eine bäuerliche Wirtschaft führen können und wollen.« Es ist das Konzept einer Zukunft von Bäuerlichkeit mit Ausrichtung auf Autonomie, Subsistenz und Ernährungssouveränität quasi als romantisches Reenactment.

Realistischer ist das Fazit, das Thomas Hentschel und Theodor Fock für die heutige Situation ziehen: »Landwirtschaft war viele Jahrzehnte lang ein von der Politik geschützter Bereich. So konnten nicht alle Möglichkeiten, die die technischen Entwicklungen hervorbrachten, eingesetzt werden. Doch der politische Schutzschirm wird zunehmend löcherig. Schutzzölle fallen, Subventionen werden zurückgefahren, und es soll mehr Wettbewerb stattfinden. Dieser Prozess wird den Trend hin zu größeren Betrieben befördern.«

Die Ausführungen von Berit Thomsen in ihrem Beitrag über TTIP und CETA zeigen, das die oben erwähnte Geschichte des Freihandels und der Marktintegration weiterhin vorangetrieben wird.

Durch die von der EU-Kommission vorgeschlagene Revision der EU-Ökoverordnung erwarten Peter Röhrig und Joyce Moewius zudem einen Rückgang von Biobetrieben in Regionen mit kleinräumigen Strukturen. Hier können die Produkte von Biobetrieben durch Stoffe aus umliegender konventioneller Landwirtschaft beeinträchtigt werden und den verschärften Richtlinien nicht mehr genügen. Damit drohe der Bio-Branche ein wirtschaftliches »Zurück in die Nische«. In Deutschland hält zudem das Wachstum der Erzeuger von Biolebensmitteln nicht mit der Entwicklung der Nachfrage für Biolebensmittel Schritt (Minou Yussefi-Menzler).

»Agrarindustrie und Bäuerlichkeit« bezeichnet somit auch das gegenwärtige Nebeneinander von zwei Systemen. Massenproduktion für den Großteil der Bevölkerung einerseits und gutes Essen, »gute« Landwirtschaft als gutes Leben, Lifestyle bzw. Statussymbol für begüterte Leute? Und sieht das für die kleinen Initiativen in Schwellenländern, wie sich Benny Haerlin fragt, dann so aus: »Lokale Selbstversorgung, Agrarökologie, regionale Märkte und Genossenschaften am Rande der großen Felder globaler Agrarkonzerne und Rohstoffindustrie, auf denen satellitengesteuerte Riesengeräte und Drohnen ihrer Präzisionslandwirtschaft nachgehen?«

 

Literatur
• Agrarbündnis (Hg.), Der kritische Agrarbericht 2015, Schwerpunkt: Agrarindustrie und Bäuerlichkeit, Hamm 2015

 



[1] Agrarbündnis (Hg.), Der kritische Agrarbericht 2015, Schwerpunkt: Agrarindustrie und Bäuerlichkeit, Hamm 2015.
[2] »Naturparks werden verschwinden«. Rolf Peter Sieferle im Gespräch mit Jan Grossarth, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung30. Juli 2013.
[3] Pepe Egger, »John Berger. Der Philosoph der einfachen Dinge«, in: Der Tagesspiegel, 29. Oktober 2014
http://www.tagesspiegel.de/kultur/john-berger-der-philosoph-der-einfachen-dinge/10906678.html (letzter Zugriff: 9. Februar 2015).