Kreuzberger Salon 3 | Stadt-Land-Beziehungen

Stadt-Land-Beziehungen

»Aristoteles: Des Menschen körperliches und animalisches Dasein mag durch das Land befriedigt sein, seine geistigen Bedürfnisse können nur durch die Stadt erfüllt werden.

Mao Tse-tung: Die Zukunft der Menschheit liegt nicht in der Stadt, sondern im Dorf.«
(zit. nach Gerhard Henkel, Der ländliche Raum)

»Wir brauchen wohl nicht weiter auf den weltweiten Autonomieverlust der Agrarproduktion in den großen Industrieländern hinzuweisen, darauf, daß sie weder der wichtigste Wirtschaftssektor mehr ist, noch auch ein Sektor mit hervorstechenden Merkmalen (es sei denn dem der Unterentwicklung). Wenn auch lokale und regionale Eigenarten aus einer Zeit, als die Landwirtschaft der wichtigste Erwerbszweig war, nicht verschwunden sind (…), so läßt sich dennoch nicht leugnen, daß die Agrarproduktion zu einem Sektor der Industrieproduktion geworden ist und sich deren Forderungen und Zwängen unterwirft. Wirtschaftswachstum und Industrialisierung – Ursache und oberste Daseinsberechtigung zugleich – ziehen Landstriche, Länder, Völker und Kontinente in ihren Bann. Das Ergebnis: Die für das bäuerliche Dasein typische traditionelle Gemeinschaft, das Dorf, wandelt sich; es geht in größeren Einheiten auf oder wird von ihnen überdeckt. Der Industrie angegliedert, konsumiert es deren Erzeugnisse. Hand in Hand mit der Konzentration der Bevölkerung geht die Konzentration der Produktionsmittel. Das Stadtgewebe beginnt zu wuchern, dehnt sich aus und verschlingt die Überbleibsel des ländlichen Daseins. Mit ,Stadtgewebe‘ ist nicht nur, im strengen Sinne, das bebaute Gelände der Stadt gemeint, vielmehr verstehen wir darunter die Gesamtheit der Erscheinungen, welche die Dominanz der Stadt über das Land manifestieren. So verstanden sind ein zweiter Wohnsitz, eine Autobahn, ein Supermarkt auf dem Land Teil des Stadtgewebes.«[1]

Ist die aus der Industrialisierung entstandene vollständig verstädterte Gesellschaft, wie sie der französische Philosoph und Soziologe Henri Lefèbvre (1901–1991) in seiner Schrift Die Revolution der Städte schon 1970 beschworen hat, inzwischen Wirklichkeit geworden, oder gibt es noch Reste einer genuin ländlichen Kultur? Wenn das Dorf als traditionelle Gemeinschaft de facto verschwunden ist, was ist an seine Stelle getreten? Und was beinhaltet für uns heute der Begriff »Land« resp. »ländlicher Raum«?

Gerhard Henkel stellt in seinem Grundlagenwerk Der ländliche Raum. Gegenwart und Wandlungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland [2] folgende Modelle zur Beschreibung der Stadt-Land-Beziehungen vor:

• Das Residualmodell betrachtet das Land als Raum, der nicht oder noch nicht Stadt ist. (…)
• Das Dichotomiemodell geht von einem unversöhnlichen Gegensatz von Stadt und Land aus. (…) Während die Konservativen das »gesunde« Landleben und die »echte« ländliche Kultur hervorheben, betonen die Progressiven die Rückständigkeit und Kulturlosigkeit der Landbewohner.
• Durch das Gemengemodell wird hervorgehoben, daß sich besonders in den Industriestaaten vielfach städtische und ländliche Siedlungen räumlich durchdringen. (…)
• Das Kontinuummodell sieht die Stadt-Land-Unterschiede nicht als grundlegende Gegensätze, sondern als graduelle Abstufungen zwischen den Polen eines Kontinuums.
• Die verschiedenen funktionalen Modelle [das Zentrale-Orte-Modell, das Hinterlandmodell, das Umlandmodell] gehen davon aus, daß Stadt und Land voneinander abhängig sind bzw. daß ständige Interaktionen zwischen beiden Raumtypen bestehen. (…)
• Das Agglomerationsmodell versucht den dynamischen Vorgang der Verstädterung zu fassen. (…)
• Das Dependenzmodell baut auf dem Agglomerationsmodell auf. (…)

Diese Modelle charakterisieren die Austauschbeziehung zwischen Stadt und Land und bewerten sie gleichzeitig.

Welche Modelle werden in der aktuellen politischen Debatte herangezogen und welche sind obsolet? Ist die Marginalisierung des ländlichen Raums, die sich daraus ablesen lässt, politisch gewollt, um die Dominanz der städtischen Kultur weiter zu befördern?

Welche Perspektiven für den ländlichen Raum und eine behauptete kulturelle Identität leiten sich daraus ab? Gibt es das überhaupt noch: eine eigenständige ländliche Kultur?

 


[1] Henri Lefèbvre, Die Revolution der Städte, Dresden 2003, S. 13f.
[2] Gerhard Henkel, Der Ländliche Raum. Gegenwart und Wandlungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland, 4. ergänzte und neu bearbeitete Auflage, Berlin und Stuttgart 2004.

 

← zurück
→ Kreuzberger Salon 4 | »Searching for Paradise«
← Kreuzberger Salon 2 | Wiederkehr der Fläche