Kreuzberger Salon 28 | Fremd- und Eigenarten

Kreuzberger Salon 28 | Fremd- und Eigenarten

»Fällt ein Stein ins Wasser, wiederholt sich die erste Welle und dehnt sich bis zum Beckenrand aus. Zünde ich ein Streicholz an, verbreitet sich die erste Welle, die ich dem Äther mitteile, augenblicklich über die Ausdehnung des Raums. Ein Paar Ameisen oder Rebläuse auf einem Kontinent auszusetzen genügt, um ihn in wenigen Jahren zu verheeren.«
Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung (1890)[1]

Im 15. Jahrhundert begann das Bier in Europa anders zu gären. Während es bis dahin nur obergärige Biere gegeben hatte, in der Art von Kölsch, Weißbier oder Ale, kam nun das untergärige Verfahren bei niedrigeren Temperaturen auf. Brauereien konnten, ohne zu wissen warum, nun Pils, Export, Lager und anderes herstellen. Erst im 19. Jahrhundert wurde das Geheimnis der Braukunst, das Phänomen der Gärung, von Louis Pasteur aufgedeckt und erklärt: als Stoffwechsel von Mikroorganismen. Und 2011 wurde mit Hilfe von Genom-Analysen der entscheidende Herkunftsstrang der untergärigen Hefe aufgezeigt: einer wilden Hefe aus den Wäldern Patagoniens, die als blinder Passagier über den Atlantik gekommen war und sich mit den in den Braukellern vorkommenden Hefestämmen gekreuzt hatte.[2]

Die Entdeckung der Neuen Welt hat in einem Ausmaß zu Ein- und Ausfuhr von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen – und damit auch zu deren Eindringen in fremde Habitate – geführt, dass diese Zeit heute als Trennlinie zwischen Archäo- und Neobiota gilt. Dieser eurozentristischen, in Deutschland gebräuchlichen Begrifflichkeit entspricht im angelsächsischen Raum der Ausdruck »invasive species«. Das mag der Situation einer globalisierten Weltwirtschaft mit sich verschiebenden historischen Hierarchien besser entsprechen. Es spiegelt aber auch eine Ökologie wider, die sich möglichst frei von Weltanschauung dem Ideal der Naturwissenschaften angleicht. Und in liberaler Tradition das Eindringen fremder Arten erforscht und zu steuern versucht.[3]

In Deutschland stehen sich im Verhältnis zur Natur zwei Positionen gegenüber: ein aus ökonomischem Interesse oder ökologischer Unbekümmertheit invasiven Arten gegenüber toleranter Liberalismus und ein aus der spezifischen Geschichte des deutschen Naturschutzes resultierender Konservatismus. Diese Polarisierung setzt sich fort auch in der Debatte um neuartige Lebewesen: um gentechnisch veränderte Organismen. Die Folgen dieses Eingriffs scheinen noch weniger absehbar zu sein als die Nebeneffekte neobiotischer Nützlinge, beispielsweise des asiatischen Marienkäfers. Genügt »ein Harlekin-Käfer, um hundert bis tausend Liter Wein zu  ruinieren«[4], wie es in der F.A.Z. vom 22. Mai 2013 hieß, ist Vorsicht geboten.

 

Literatur
• Jacob Cartwright, Nick Jordan, Alien Invaders. A Guide to Non-Native Species of the Britisher Isles, Volume I, London 2007
• Alfred W. Crosby, Die Früchte des weißen Mannes. Ökologischer Imperialismus 900–1900, Frankfurt am Main, New York 1991
• Stefan Körner, Das Heimische und das Fremde. Die Werte Vielfalt, Eigenart und Schönheit in der konservativen und in der liberal-progressiven Naturschutzauffassung, Münster, Hamburg und London 2000
• Ingo Kowarik, Biologische Invasionen: Neophyten und Neozoen in Mitteleuropa, Stuttgart 2003
• Edward O. Wilson, Die Zukunft des Lebens, München 2004


[1] Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt am Main 2009, S. 40.
[2] Diego Libkind, Chris Todd Hittinger, Elisabete Valério u.a., »Microbe domestication and the identification of the wild genetic stock of lager-brewing yeast«, in: PNAS, 22.08.2011, http://www.pnas.org (Stand: 27.05.2013).
[3] Philipp E. Hulme, »Trade, transport and trouble: managing invasive species pathways in an era of globalization«, in: Journal of Applied Ecology, 2009, 46, S. 10–18; http://onlinelibrary.wiley.com (Stand: 27.05.2013).
[4] Hildegard Kaulen, »Die Kannibalen unter den Käfern leben riskant«, Frankfurter Allgemeine Zeitung (Natur und Wissenschaft), 22.05.2013; http://www.faz.net (Stand: 27.05.2013).

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