Kreuzberger Salon 27 | Hortikultur

Hortikultur

»… zum begriffe gehört noch, dasz er mit dem spaten, nicht mit dem pfluge bearbeitet wird«
Deutsches Wörterbuch von Wilhelm und Jabob Grimm, Artikel »Garten«

Im Zuge der Rückkehr der Gärten in die Stadt wird »urban« gelegentlich sowohl mit »gardening« als auch mit »agriculture« kombiniert, so als handele es sich hierbei um Synonyme. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass Hortikultur und Agrikultur sich als zwei verschiedene Strategien zur Kolonisierung von Natur mit jeweiligen Eigenlogiken entwickelt haben. Eine Tendenz zur Hortikulturalisierung kann man feststellen, wo angesichts begrenzter Flächenressourcen, kleinteiliger Geographie und zum Teil auch der klimatischen Möglichkeit der Dauerkultivierung und großem Einsatz menschlicher Arbeitskraft mit nur einfachen Werkzeugen gewirtschaftet wird. Die Produktivität des Gartenbaus geht über diejenige der Feldwirtschaft hinaus, die zwar mit weniger menschlicher Arbeit auskommt, aber Zugtiere und schweres Gerät einsetzt. Agrikultur entwickelte sich, wo ausreichend Flächen, auch zur Ernährung der Arbeitstiere, zur Verfügung standen. Die Innovationen des Industriezeitalters haben nun zuerst in der Agrikultur Einzug gehalten und zur Substituierung tierischer Zugkraft und Mechanisierung menschlicher Feldarbeit geführt. Hieraus entwickelte sich von Nordwesteuropa und Nordamerika aus die heute weltweit ausgreifende Agrarindustrie.

Gegenwärtig werden zwar immer noch zwei Drittel der Menschheit von kleinbäuerlichem und hortikulturalem Anbau bzw. Subsistenzwirtschaft ernährt. Dennoch steht diese Form unter starkem Druck: Abwanderung in Städte, Flächenverluste durch Urbanisierung, Marktverzerrungen durch subventionierte Lebensmittelimporte, Landgrabbing und die Strategie, mit Patenten auf Saatgut und Zuchttiere die Ernährungssouveränität zu brechen sowie mit chemischen Dünge- und Pflanzenschutzmitteln Abhängigkeiten zu erzeugen.

Gegenüber der Agrikultur vollzog sich das Eindringen der Technik in die Hortikultur mit einer gewissen Verzögerung. Die menschliche Geschicklichkeit, die Hand und das Auge in hortikulturalen Systemen, etwa dem Weinbau, zu ersetzen, war technisch weitaus anspruchsvoller. Es erforderte letztlich eine Rationalisierung von Flächen und eine in Richtung Robotik weiter entwickelte Technik. Agroindustrielle Praktiken dringen so auch in die Hortikultur ein.
Heute produzieren immer weniger Menschen mit immer aufwändigeren und untereinander vernetzten Maschinen (M2M) und Anlagen immer mehr Lebensmittel. Und auf Konsumentenseite breitet sich ein Unbehagen aus: an der hypercartesianischen Zurichtung der Landschaft, der ökonomistischen Optimierung des Extraktivismus, der Fleischfabrikation, der Intransparenz von Produkten und ihren Wegen, der Gentechnik. Die durch Landflucht erlangte Freiheit der Städter erhält Züge von Entfremdung, Mobilität Züge von Entwurzelung.

Als Fluchtpunkt all der kritischen Linien hierzu figurieren seit einiger Zeit nun die neuen urbanen Gärten. Die Kreislaufwirtschaft der klassischen Hortikultur, die Ökonomie des Vorsorgens, das Gemeinschaftliche und Lokale, Nachbarschaftliche sind hier die aktuellen Werte. Die Bewegung mag vor einiger Zeit mit dem Kochen angefangen haben, zu einem bewussteren Einkaufen und Umgang mit Lebensmitteln geführt haben, der Infragestellung der Macht der Gewohnheit der Ernährungsindustrie, um dann selber zum Spaten zu greifen. Dort, wo die Stoßrichtung weitergeführt wird, bilden sich neue Allianzen zwischen Stadt und Land, wie etwa die Solidarische Landwirtschaft. Für die besten der Gärten gilt deshalb, was der schottische Künstler Ian Hamilton Finlay (1925–2006) formulierte: »Some gardens are described as retreats, when they are really attacks.«

Literatur
• Heide Inhetveen, »Hortikultur als Vorbild«, in: Politische Ökologie, 12. Jg. 1994, Sonderheft 6, S. 22–27

 

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