Kreuzberger Salon 25 | WORLD = COUNTRYSIDE

WORLD = COUNTRYSIDE

»Ja, das Land hatte sich verändert, von Grund auf verändert. Die einheimischen Bewohner der ländlichen Gebiete waren fast alle verschwunden. Neuankömmlinge aus der Stadt mit ausgeprägtem Unternehmungsgeist und bisweilen auch gemäßigten ökologischen Überzeugungen hatten sie abgelöst. Sie hatten es unternommen, das Hinterland zu bevölkern – und nach diversen unfruchtbaren Versuchen in früherer Zeit war dieses Unternehmen, das nun auf einer soliden Kenntnis der Marktgesetze und deren einsichtiger Hinnahme gründete, ein voller Erfolg.«
Michel Houellebecq, Karte und Gebiet [1]

Das 21. Jahrhundert wurde als das »Jahrhundert der Städte« proklamiert. Doch schon nach seinem ersten Jahrzehnt bekundet der Architekt und Theoretiker des Urbanen, Rem Koolhaas, unversehens Interesse für das Land als »the next big thing«.[2]
Die Fokussierung auf Stadt war bei Koolhaas und seinem Office for Metropolitan Architecture lange Zeit Programm. Seit 2005 lebt über die Hälfte der Menschheit in Städten – eine Entwicklung, die Koolhaas in seinem Buch Mutations (2000) schlaglichtartig beleuchtet. WORLD = CITY steht auf der Rückseite des Buchs.

Letztes Jahr, 2012, machte Koolhaas anlässlich der Verleihung des Jencks Award die Gegenrechnung auf: Da Städte nur 2 Prozent der Oberfläche der Welt einnehmen, hieße das, 98 Prozent der Welt zu ignorieren, wenn man das Land nicht betrachtet. Koolhaas’ »Erweckungserlebnis« war eine Wanderung in der Schweiz an einem von ihm wiederholt besuchten Ort: Wie bei einem Vexierbild kippte seine Wahrnehmung plötzlich und er gewann einen neuen Blick auf das Land, eine Perspektive, die seither integral dazugehört.
In seiner Lecture gab Koolhaas sein Vorhaben bekannt, »to write a book on the countryside and I hope to be able to do it with a kind of combined literary precision of Tolstoy and Houellebecq and try to record over time what we have lost and perhaps what we have gained«.[3] Auf der Verlustseite steht die Welt Tolstois, illustriert von frühen Farbaufnahmen aus dem ländlichen zaristischen Russland. Michel Houellebecqs Karte und Gebiet (La carte et le territoire) von 2010 spielt teilweise schon mit der Zukunft. Am Schluss des Romans extrapoliert er Beobachtungen und Tendenzen aus dem gegenwärtigen ländlichen Frankreich und projiziert sie provokant in die nicht allzu ferne Zukunft.

Koolhaas sieht auf dem Land heute einen Hypercartesianismus am Werk. Das Land erscheint ihm »more volatile than the accelerated city«.[4] Es ist zu erwarten, dass andere, den Gesetzen der Nachahmung folgend, das bald auch so sehen werden.

 

Literatur
• Bilder eines Reiches. Leben im vorrevolutionären Russland, hg. vom ZKM, Heidelberg 2012
• Michel Houellebecq, Karte und Gebiet, Köln 2011
• Ralph Martin, »Amerikas Landlust. Vergesst die Großstadt!«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Januar 2013 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/amerikas-landlust-vergesst-die-grossstadt-12040314.html

Foto: Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski, Bauernmädchen, Russisches Reich 1909/Library of Congress, Prints & Photographs Division, Prokudin-Gorskii Collection, LC-DIG-prokc-21043


[1] Michel Houellebecq, Karte und Gebiet, Köln 2011, S. 402.
[2] http://blog.shiftboston.org/2012/03/goodbye-starachitecture-welcome-countryside-dis-appearances-in-rem’s-lecture (Stand: 4.3.2013).
[3] http://www.guardian.co.uk/artanddesign/2013/jan/08/rem-koolhaas-venice-biennale-2014 (Stand: 4.3.2013); http://www.youtube.com/watch?v=Y97yXB82nWc (Stand: 4.3.2013).
[4] http://www.smithsonianmag.com/arts-culture/Why-is-Rem-Koolhaas-the-Worlds-Most-Controversial-Architect-165593696.html (Stand: 4.3.2013).