Kreuzberger Salon 23 | Das ganz Neue

Das ganz Neue

»… da stehen Sätze wie von Robert Scott in seinem letzten Biwak.
Dabei regnet es bloß.«
Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän[1]

Das Holozän (griech. ὅλος, »ganz, völlig«, und καινός, »neu«) ist das Erdzeitalter, das vor etwa 12.000 Jahren mit einer relativ schnellen Erwärmung des Klimas begann. Menschheitsgeschichtlich vollzog sich dabei der Übergang von eiszeitlichen Jägern und Sammlern zu Sesshaftigkeit und Agrikultur. Dieser mitunter »neolithische Revolution« genannte Vorgang war kontingent, das heißt, er geschah in mehreren Teilen der Welt unabhängig voneinander mit der Kultivierung unterschiedlicher Getreide.

Der nächste Energieregimewechsel aber – vom agrikulturellen Solarenergiesystem hin zu fossilen Energieträgern – ereignete sich als europäischer Sonderweg. Er begann ohne äußere klimageschichtliche Veranlassung von England ausgehend um 1800 mit der sogenannten »industriellen Revolution«. Es erscheint müßig, darüber zu spekulieren, ob andere Kulturen auf der Welt von sich aus eine ähnliche oder alternative Entwicklung genommen hätten. Zu schnell hat der Westen, aufbauend auf dem Kolonialsystem, den Rest in seinen industriellen Stoffwechsel miteinbezogen.

Unabhängig davon, dass ein Wohlstand für alle nach westlichem Modell nicht realisierbar ist, gehen die Auswirkungen des Industriesystems bereits jetzt zu weit. Schon 1989 schrieb der Historiker Rolf Peter Sieferle:

»Aus der heutigen Perspektive kann man die naive Frage stellen, ob denn eigentlich zu jener Zeit, als sich das moderne Industriesystem formierte, jemand bemerkt hat, daß dabei eine Schwelle im Verhältnis zur Natur überschritten wurde, jenseits deren sich die Menschheit in eine Zone der Gefahr begibt? Oder steckten die Zeitgenossen im 19. Jahrhundert in einer solchen Fortschrittseuphorie, daß sie sich die ›Kosten‹ des Fortschritts nur als etwas Punktuelles vorstellen konnten, als allein ›sozial‹ bedingt und somit prinzipiell lösbar? Gab es Möglichkeiten, den Vorgang der Industrialisierung und Modernisierung als fundamental selbstdestruktiv zu sehen?«[2]

Dass die Menschheit der prägende Faktor der Naturgeschichte, eine »tellurische Macht« ist, hat den italienischen Geologen Antonio Stoppani 1873 dazu geführt, emphatisch die »Ära des Anthropozäns« auszurufen. Gerade dieser Begriff erlebt seit einigen Jahren eine Renaissance, wenn auch nicht mit positivem Vorzeichen. Grundlage für diese Hypothese sind heute naturwissenschaftliche Messdaten, die die globale Relevanz – also die negativen Folgen – der menschlichen Kultur belegen.

Der niederländische Chemie-Nobelpreisträger Paul J. Crutzen hält es deswegen für »angemessen, die gegenwärtige, vom Menschen geprägte geologische Epoche als ›Anthropozän‹ zu bezeichnen«.[3] Als Atmosphärenchemiker ist er ein Pionier in der Erforschung der zerstörerischen Wirkung anthropogener Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) auf die Ozonschicht, das Schutzschild der Erde. Seine Forschung trug entscheidend dazu bei, dass der Ausstoß dieser Gase reduziert wurde. Seither schließt sich das Ozonloch wieder. »Ich kann nur feststellen, dass wir ziemliches Glück hatten«,[4] stellte Crutzen im Nachhinein fest.

Das Problem, dass die Menschheit fähig ist, die Deponie- und Absorptionskapazität der Natur  zu überschreiten, bleibt. Andererseits reicht ihre Macht wohl nicht aus, sämtliche Folgen zu neutralisieren. Damit gibt es kein Außen mehr. Die große Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Natur, wie sie seit Descartes gegolten hat, ist als Konzept nicht mehr haltbar.

Vor diesem Hintergrund zeichnen sich heute zwei Programme ab. Zum einen die Ökumene. Eine idealistische Variante, die auf vormoderne Ökonomien des Gemeinschaftlichen (der europäischen Allmende, den außereuropäischen Tauschökonomien und anderen anthropologischen Einsichten aus dem Kolonialismus etc.) zurückgreift. Und eine realistische Variante, bei der ein privilegierter Teil der Menschheit an der Sicherung von Ressourcen und Räumen, gated communities und Klimakapseln arbeitet.

 

Literatur
• Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2007; Bonn 2007
• Friedrich von Borries, Klimakapseln. Überlebensbedingungen in der Katastrophe, Berlin 2010
• Paul J. Crutzen, Mike Davis, Michael D. Mastrandrea, Stephen H. Schneider, Peter Sloterdijk, Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang. Energie und Politik im Anthropozän, Berlin 2011
• Paul J. Crutzen, Christian Schwägerl, »Living in the Anthropocene: Toward a New Global Ethos«, 24. Januar 2011; http://e360.yale.edu/feature/living_in_the_anthropocene_toward_a_new_global_ethos_/2363/ (Stand: 26.12.12)
• Terry Eagleton, Was ist Kultur?, München 2009
• Richard Buckminster Fuller, Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften, hg. von Joachim Krausse, Hamburg 2008
• Christian Schwägerl, Menschenzeit. Zerstören oder gestalten? Die entscheidende Epoche unseres Planeten, München 2010
• Rolf Peter Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts, Frankfurt am Main 1989



[1] Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän, Frankfurt am Main 1981, S. 29.
[2] Rolf Peter Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts, Frankfurt am Main 1989, S. 12.
[3] Paul J. Crutzen, »Die Geologie der Menschheit«, in: Paul J. Crutzen, Mike Davis, Michael D. Mastrandrea, Stephen H. Schneider, Peter Sloterdijk, Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang. Energie und Politik im Anthropozän, Berlin 2011, S. 7.
[4] Paul J. Crutzen, zitiert nach: Christian Schwägerl, Menschenzeit. Zerstören oder gestalten? Die entscheidende Epoche unseres Planeten, München 2010, S. 16.

 

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