Kreuzberger Salon 20 | Wein in der Agrikultur: Zeit und Reife

Wein in der Agrikultur: Zeit und Reife

In Europa hat die Agrikultur im Weinbau auf einem schwindenden Eiland zwischen globaler Ökonomisierung und Agrarindustrie überleben können. Hier lassen sich immer noch zahlreiche Regionen finden, in denen einzelne Höfe und Weinbaubetriebe auch außerhalb subsistenzwirtschaftlicher Formen den Weinbau zumindest partiell im Sinne der vorindustriellen bäuerlichen Landwirtschaft betreiben.

So werden beispielsweise historische Weinbergslagen mit ihren komplexen Terrassensystemen und Trockensteinmauern aufwendig erhalten und subventioniert. Sie sind, Reservaten gleich, als Teil von Kulturlandschaften geschützt, oft auch vor der sogenannten Flurbereinigung. Jene Winzer, die heute noch weitgehend agrikulturell arbeiten, erzeugen oft in überschaubaren Mengen Weine im gehobenen Segment für Nischen des Marktes.

Einerseits werden solche Weine als anachronistische Symbole einer alten Kultur inszeniert, andererseits wird es zunehmend schwerer, solche Gewächse zu vermitteln, da sie oft von gewohnten Geschmacksmustern abweichen und Konsumentenerwartungen kaum bedienen. Auch trifft das Phänomen der wertbildenden Reife, die einen echten Wein auszeichnet, zunehmend auf Unverständnis. Das Gros heutiger Konsumenten lebt in urbanen Milieus, hat keinen Weinkeller, kann einen Wein nicht über längere Zeiträume sachgerecht lagern.

Doch erst ein Wein, der nicht weggetrunken wird, kann reif werden. Deshalb gab es einerseits gewisse Traditionen des Weinlagerns, sei es in kirchlichen, höfischen, staatlichen oder bürgerlichen Weingütern und privaten Sammlungen. Andererseits beeinflusste der im Fass verweilende Wein auch den Produzenten: Durch die biochemischen Reifeprozesse veränderte sich der Wein mit der Zeit, baute sich um und lehrte den Erzeuger, in welche Richtung er im nächsten Jahr die Prozesse im Weinberg und Keller beeinflussen sollte. Durch radikale Infragestellung der weinbaulichen und kellerwirtschaftlichen Prozesse bildete und erneuerte sich Weinbaukultur.

Es stellt sich also die Frage: Geben wir in der postindustriellen Gesellschaft diese Kultur des gewachsenen Weins auf oder entwickeln wir den Prozess als Agrikultur zeitgemäß weiter? Des Weiteren: Warum muss man etwas an einem Ort über längere Zeiträume hinweg pflegen, was auch Generationenkonflikte beinhaltet? Brauchen wir diese Kultur des Weins heute noch, und was bedeutet Kultur in diesem Zusammenhang?

Weinbau als Prozess und Wein als sein Ergebnis waren von Anbeginn Teil der in cultus und cultura angelegten kulturbildenden landwirtschaftlichen Tätigkeit des Menschen. Cultus und cultura wurden in ihrem Doppelcharakter auf den Wein bezogen, und der Weinbau hat diese Wörter und ihre Bedeutungsbereiche geprägt.[1] Als Teil der bäuerlichen Landwirtschaft weist der Weinbau zugleich über sie hinaus; hier geschieht eine Erweiterung von Vorgang und Ergebnis, das zu einer neuen Qualität und Wertkategorie führt: Durch die Pflege und Sorge des Menschen wird das Naturprodukt Traube zum Wein ausgebaut und als Kulturprodukt transzendiert. Cultus und cultura haben eine Nähe zu den Wissenschaften und Künsten. Das verweist einerseits auch auf Handwerklichkeit, andererseits auf Wissensbildung durch Erfahrung und Beobachtung der künstlichen und natürlichen Natur.

Wenn Wein ein Kulturprodukt ist, dann hat er eine Ausdruckskraft, mit der das Ausgedrückte in ihm zum Vorschein kommt. Der Ausdruck selbst bleibt phänomenal, was bedeutet, dass die Identität des Weins an komplexe Phänomene (Geruch, Geschmack, Konsistenz, Farbe etc.) gebunden ist. Deshalb kann man einen Wein nicht als ein Gemisch von Eigenschaften verleihenden Materialien auffassen, sondern als ein Getränk, das als künstliches Produkt aus natürlichen Komponenten hervorgerufen worden ist. Dabei intendieren die Prozesse der Weinherstellung einen Ausdruck, der jedoch keine Optimierung darstellt.

Das Phänomen Wein hat für Laien und Amateure seine Tücken und Ungewissheiten. So gibt es kein Haltbarkeitsdatum, doch bei jedem Wein erhebliche Unterschiede, was seine Lagereigenschaften und das Haltbarkeits- und Entwicklungspotenzial betrifft. Hinzu kommen wert- und geschmacksbestimmende Jahrgangsunterschiede, spezifische Reifeprozesse und eine Fülle individueller und lokaler Weinstilistiken. Neue önologische Verfahren und technologische Innovationen ermöglichen es nun, den Wein stärker an den Bedürfnissen von Vermarktung und Konsumenten auszurichten. Dabei bietet sich eine Optimierung des Produktes durch die Vereinfachung des Komplexen und die Wiederkehr des Gleichen an. Hierbei können etwa Jahrgangsunterschiede nivelliert und Farbe, Geruch, Geschmack oder Tanningehalt im Sinne eines Produktdesigns pragmatisch eingestellt werden. Diese Fortentwicklung hatte auch Auswirkungen auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen, hier wurde das einst restriktive deutsche Weingesetz teilweise den aktuellen Erfordernissen angepasst und liberalisiert. Grundsätzlich stellt sich nun die Frage, ob die so hergestellten Produkte überhaupt noch als Wein im Sinne einer europäischen Tradition von Weinbaukultur angesehen werden können.

Begreift man Ökologie als Permanenz innerhalb eines sich dynamisch entwickelnden Gleichgewichtes, welche eine Identität besitzt, bedeutet dies, dass diese Identität bereits eine Entschiedenheit darstellt, die man nicht von außen mit Entscheidungen verändern kann. So können im Weinbau bestimmte Faktoren wie Bodenbeschaffenheit, Exposition, Wetter, Klima etc. dazu führen, dass etwas Bestimmtes in bestimmten Verhältnissen gedeiht. In der proportionalen Verhältnismäßigkeit entstehen optimale Mischungen, die ihre Balancen und Kippräume haben und zum Verlust der Identität führen können. Hierzu gehören beispielsweise pflanzliche Überzüchtungen durch genetische Prozesse oder pflanzliche Verkümmerungen, wenn man Pflanzgut importiert und dieses nicht die geeigneten Verhältnisse findet.

Echte Weine sind als Gewächse keine technologisch geprägten Getränke, sie zeichnet aus, dass sie agrikulturellen Ursprungs sind und ihr Geschmack Ausdruck einer Ereignisgeschichte ist, die von permanenter Veränderung geprägt ist bei gleichzeitiger Bewahrung ihrer Identität. Wein ist in diesem Sinne etwas Dynamisches, wobei sich seine Zeitlichkeit nicht ausschließlich mit dem chronologischen Zeitbegriff beschreiben lässt. Echter Wein hat seine eigene Zeit, was auch in der Fähigkeit zur Reife zum Ausdruck kommt. Diese Reife des Weins kann sinnlich anhand seiner Farbe, seines Dufts und Geschmacks wahrgenommen werden. Die Spuren der Reife im Wein sind hierbei nicht, wie bei vielen industrienah erzeugten Weinen, wirkungsästhetisch bestimmt, sondern Ergebnisse eines komplexen Produktionsprozesses, der von vielen Faktoren beeinflusst wird, wie der Geologie (Bodenbeschaffenheit des Weinbergs), der geographischen Exposition des Weinbergs, den Pflanzen, der Kontingenz von Klima und Wetter und nicht zuletzt davon, wie der Winzer mit seinem Material, den Trauben, umgeht, wie und ob er es versteht, die Potenzen des Ortes und der Traube im Wein zum Ausdruck kommen zu lassen.

Ergänzend zum Vortrag werden wir gemeinsam eine kleine Auswahl unterschiedlich gereifter Moselrieslinge probieren. Die Weine sind an der Mittelmosel in Schiefersteillagen gewachsen, stammen aus fünf verschiedenen Jahrgängen. Zunächst soll anhand eines trockenen, im traditionellen Fuderfass ausgebauten Moselrieslings gezeigt werden, wie sich Komplexität im Wein ohne Volumenentzug bilden kann, hierbei wird kurz auf die Themen wurzelechte, alte Reben und Homöostase eingegangen. Wie die generationenübergreifende Auseinandersetzung mit dem Ort im Wein zum Ausdruck kommen kann, soll anhand der Weine vorgestellt werden: Jeder Wein befindet sich in einem anderen Stadium seines Reifeprozesses. Sich auf diese Unterschiede einzustellen und ihnen mit den Sinnen nachzuspüren, bedeutet auch einer Welt zu begegnen, für die der Wein ein Medium ist.

Till Ehrlich


Literatur
• Till Ehrlich, »Ist Wein ein Kulturgut? Gedanken zur kulturellen Identität und Geschichtlichkeit des Weins«, in: Journal Culinaire – Kultur und Wissenschaft des Essens, Nr. 8, 2009, S. 26–40
• Béla Hamvas, Philosophie des Weins, Berlin 1994
• Franz Höchtl, Werner Kobold, »Historische Terrassenweinberge. Landschaftselemente in Harmonie von Natur und Kunst«, in: Journal Culinaire – Kultur und Wissenschaft des Essens, Nr. 8, 2009, S. 10–16
• Tea Säppälä, »Der Einfluss der Industrialisierung im 19. Jahrhundert auf den Weinbau am Oberrhein unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Wort und Sache«, in: Maria Besse, Wolfgang Haubrichs, Roland Puhl (Hg.), Weinwörter – Weinkultur. Ein europäisches Fachwörterbuch im linguistischen, historischen und kulturellen Kontext, Mainz 2009, S. 149–163
• Michel Onfray, Die Formen der Zeit. Theorie des Sauternes, Berlin 1999

Foto: Till Ehrlich, Einblick in das Innenleben eines Weinfasses, Jerez 2004


[1] Zur Begriffsgeschichte von colere, cultus und cultura siehe: Till Ehrlich, »Ist Wein ein Kulturgut? Gedanken zur kulturellen Identität und Geschichtlichkeit des Weins«, in: Journal Culinaire – Kultur und Wissenschaft des Essens, Nr. 8, 2009, S. 31f.

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