BÜRGER | GÄRTEN

BÜRGER | GÄRTEN

 

BÜRGER | GÄRTEN ist ein Beitrag des Kreuzberger Salons zur Ausstellung Kolonie im Haag des Kunst und Kulturvereins Alte Schule Baruth. Die Ausstellung findet vom 10. August bis 8. September 2013 in den alten Streuobstwiesen von Baruth statt. 

BÜRGER | GÄRTEN

Das Haag ist Teil der Flemmingwiesen, einer von Entwässerungsgräben durchzogenen Niederung des Baruther Urstromtals im Landkreis Teltow-Fläming. Diese Jungmoränenlandschaft hat sich gegen Ende der letzten Kaltzeit gebildet. Der dunkle, humusreiche Boden ist von großer Fruchtbarkeit.
Bis zum Ende der DDR war das Haag Teil des lokalen Versorgungssystems. Hier konnten Baruther Bürger auf uneingezäunten Parzellen Früchte und Gemüse für den Eigenbedarf anbauen. Seit der Wende und mit dem Einzug der Discounter wird es kaum noch genutzt.
BÜRGER | GÄRTEN thematisiert die traditionelle Funktion dieses Geländes als Hack- und Grabeland. Dafür werden zehn Quadrate von 1 mal 1 Meter vom Brennesselbewuchs zur symbolischen Nutzung freigelegt, um in Form einer begehbaren Installation die Produktivkraft der Natur sichtbar zu machen. Gleichzeitig wird an die Herkunft unserer dezimalen Maße und Gewichte aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts erinnert.
Für 30 Tage setzt BÜRGER | GÄRTEN auch die Zeitrechnung des Französischen Revolutionskalenders wieder in Kraft. In diesem Kalender ist jedem Tag gemäß der Jahreszeit der Name einer Pflanze, eines Nutztiers oder eines landwirtschaftlichen Geräts zugeordnet. Nur die Tage eines Wintermonats sind nach Mineralien des Bodens benannt.
BÜRGER | GÄRTEN inszeniert eine Auswahl von Pflanzen und Früchten des landwirtschaftlichen Programms vom Tag der Eröffnung der Ausstellung am 10. August/23. Thermidor (= Hitzemonat) bis zu deren Ende am 8. September/21. Fructidor (= Fruchtmonat).[1]
Die Laufzeit von insgesamt 30 Tagen wird von der Installation DATEN | BANK repräsentiert. Sie besteht aus einer Sitzbank im Garten, die mit den im Kalender enthaltenen Namen – Linse, Alant, Otter, Myrte, Raps, Lupine, Baumwolle, Mühle etc. – bedruckt ist. Ihr virtueller Teil versammelt Angaben zum Kalenderprogramm, die auch für Nicht-Besucher einsehbar sind; diese werden während der Ausstellung fortlaufend ergänzt.
MAHL | ZEIT widmet sich den Lebensmitteln in dieser Liste und der in das Programm eingeschriebenen saisonalen Kulinarik. In diesem Rahmen wird am Tag der Finissage das Menu Fructidor für das Abschlussessen des Kunstvereins zubereitet und an einer Tafel im Haag serviert.

VERNUNFT, MASS UND NATUR

Vor etwa 250 Jahren, zu Beginn der bürgerlichen Epoche, war im vorrevolutionären Frankreich eine Bewegung entstanden, die sich die »Herrschaft der Natur« (Physiokratie) auf die Fahnen geschrieben hatte. Ihr Begründer, der Arzt und Ökonom François Quesnay (1694–1774), hatte in Analogie zum menschlichen Kreislauf das erste schematische Wirtschaftsmodell entwickelt. In seinem Tableau économique (1758) nehmen die Bauern (classe productive) als Versorger und Produzent des gesellschaftlichen Mehrwerts die zentrale Rolle ein.
Basierend auf den Ideen der Physiokraten, orientierte sich der 1792 eingeführte Republikanische Kalender an der Landwirtschaft mit ihren Pflanzen, Früchten, Nutztieren und Geräten. Dieser auch als Französischer Revolutionskalender bezeichnete Kalender löste den gregorianischen Kalender ab, der seinerseits erst zweihundert Jahre zuvor in Kraft getreten war, um die astronomische Ungenauigkeit des julianischen Kalenders auszugleichen.
Die Besonderheit des Kalenders, der den Beginn einer neuen Epoche kennzeichnen sollte, war, dass ihm das Dezimalsystem zugrunde lag: Eine Stunde hatte 100 Minuten, ein Tag zehn Stunden, eine Woche zehn Tage. Diese Zeiteinteilung stand ganz im Geiste der Aufklärung: Mathematik war im Begriff, die Theologie abzulösen, und die Wissenschaft erkannte in der Natur die Ordnung der Vernunft.
Zeitgleich waren mit Meter und Gramm neue Maße und Gewichte eingeführt worden, die ebenfalls auf dem dezimalmetrischen System beruhen. Der Meter, der in Paris zentral festgelegt wurde, orientiert sich nicht mehr an den Gliedmaßen des menschlichen Körpers wie Fuß oder Elle, sondern ist ein von der Erdform abgeleitetes rechnerisches Maß.
Gegen eine Vielzahl von »menschlichen« und regional unterschiedlichen Maßen konnte nun ein abstraktes einheitliches, auf Zehnerpotenzen basierendes Referenzsystem verwendet werden. Es entsprang einer Tendenz zu Standardisierung und Normierung, die entscheidend zum Verschwinden der alten, kleinteiligen Welt im 19. Jahrhundert beigetragen hat. Dennoch brauchte der Meter ein dreiviertel Jahrhundert, um sich gegen die Macht der Gewohnheit im Gebrauch traditioneller Maße auch international durchzusetzen (im englischsprachigen Raum z.B. haben sich bis heute Maße wie inch, foot etc. erhalten).
Der dezimale Kalender hingegen wurde schon 1805 wieder aufgegeben, nicht zuletzt, weil sich die astronomische Zeit nicht restlos mathematisch aufteilen lässt.
 Damit verschwand auch sein von Künstlern und Intellektuellen entwickeltes aufklärerisches, bodenverbundenes und sinnlich-erzieherisches Programm.
 Wenig später hat die beginnende Industrialisierung und der zunehmende Einsatz fossiler Energien das Bewusstsein für die Rolle der Natur als primäre Produktivkraft vergessen gemacht.
Zwei aus dem Geist der Aufklärung hervorgegangene auseinanderstrebende Stränge werden von BÜRGER | GÄRTEN somit installativ verbunden: das metrische System, das im Zuge von Handel und Globalisierung zur internationalen Vereinheitlichung beigetragen hat und damit ein Wegbereiter der heutigen Globalisierung geworden ist, und der revolutionäre Kalender, der als wertbildende Elemente und Produktivkraft einzig Natur und Landwirtschaft anerkennt. Dieser Versuch einer allgemeinen bürgerlichen Wissensvermittlung oder Bewusstseinsbildung ist vor zweihundert Jahren gescheitert, da sich ein anderes (Energie-)Regime durchgesetzt hat. Jetzt, da sich die Endlichkeit dieses Wirtschaftens abzeichnet, wollen wir an den Ansatz der Physiokraten erinnern. Denkt man an die Debatten um erneuerbare Energien, nachwachsende Rohstoffe und Bioökonomie, erscheint die Herrschaft der Natur als zwar unterbrochene, aber zukunftsweisende Utopie.

Miriam Wiesel + Axel Schmidt

DATEN | BANK
MAHL | ZEIT
Kolonie im Haag

Literatur
• Francis Cape, We sit together. Utopian benches from the Shakers to the Separatists of Zoar, New York 2012
• Johann Sigismund Elßholtz, Vom Garten-Baw [Oder Unterricht von der Gärtnerey auff das Clima der Chur-Marck Brandenburg wie auch der benachbarten Teutschen Länder gerichtet und in VI. Bücher abgefasset, 1684], Leipzig 1987
• Béla Hamvas, Silentium, München 1999
• Hans Immler, Natur in der ökonomischen Theorie, Opladen 1985
• Michael Meinzer, Der französische Revolutionskalender (1792-1805). Planung, Durchführung und Scheitern einer politischen Zeitrechnung, München 1992
• Herbert Meißner, Die Physiokraten als wirtschaftspolitische Wegbereiter der Französischen Revolution, Berlin 1990

 


[1] → Konkordanz 10. August 2013/23. Thermidor CCXXI bis 8. September 2013/21. Fructidor CCXXI